8 Ursprung und Erbe

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10.34663/9783945561607-10

Citation

Høyrup, Jens (2021). Ursprung und Erbe. In: Algebra in Keilschrift: Einführung in eine altbabylonische geometrische Technik. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Eine Möglichkeit, sozio-kulturelle Strukturen und Umstände zu erklären, argumentiert von ihrer Funktion her: Wenn die Schreiberschule so viele Mühen aufwendet, um fortgeschrittene Mathematik und sogar die sumerische Sprache zu unterrichten, und wenn es dies über Jahrhunderte hinweg getan hat, dann müssen diese Aktivitäten wichtige Funktionen gehabt haben – wenn nicht als direkt sichtbare Konsequenzen, dann doch als indirekte. Wir haben eben eine Erklärung dieser Art gesehen.

Eine andere Art der Erklärung – keine alternative, sondern eher die andere Seite derselben Medaille – gründet sich auf den historischen Ursprung:. Wer hatte die Idee, und wann? Oder, wenn es sich nicht um einen Einfall eines Moments handelte, wie hat sich das Phänomen entwickelt, und mit welchen früheren Strukturen und Bedingungen hat es begonnen? In unserem speziellen Fall: Wenn die Erfindung nicht in der Schreiberschule gemacht wurde, woher kam dann die Inspiration, und wie veränderte diese Aktivität vielleicht ihren Charakter, weil sie in eine neue Umgebung verfrachtet worden ist, wo sie neue Funktionen zu erfüllen hatte?

Während der letzten 40 Jahre haben sich unsere Kenntnisse über die mesopotamische Mathematik des dritten vorchristlichen Jahrtausends stark vermehrt, insbesondere was die Bestimmung rechtwinkliger oder fast rechtwinkliger Felder angeht. Wir können jetzt mit Zuversicht behaupten, dass wir deshalb keine Texte aus dem dritten Jahrtausend mit algebraischen Problemen gefunden haben, weil es keine gegeben hat.

Dies widerspricht der traditionellen Überzeugung, dass alles in Mesopotamien aus vor undenklichen Zeiten stammen muss. Sicher, wir sind im „Orient“, wo alles, wie wir wissen, ohne Alter und Entwicklung (und vor allem ohne Fortschritt) ist – zumindest ist dies im „Westen“ eine Meinung „ohne Alter und Entwicklung“.

Der Ursprung: Rätsel von Feldmessern

Die Algebra der altbabylonischen Schreiberschulen ist, ganz im Gegenteil, keine Fortsetzung einer jahrhunderte- oder gar jahrtausendelangen Tradition – im dritten Jahrtausend existierte nichts Vergleichbares. Dies ist eine unter vielen Charakteristika der neuen Kultur der Schreiber dieser Epoche. Im Prinzip könnte die Algebra in der Umgebung der Schulen entwickelt worden sein – dies war sicherlich für die Arbeit an zweisprachigen Texten und die Untersuchungen der sumerischen Grammatik unter einem akkadischen Blickwinkel der Fall. Ein solcher Ursprung würde auch zur Tatsache passen, dass das zentrale Vokabular für Feldmessung und Teile des Vokabulars in praktischen Rechnungen sumerischen Ursprungs ist oder zumindest in sumerischen Logogrammen geschrieben wurde („Länge“, „Breite“, igi, „sind gleich bei“ ), während die Ausdrücke, welche die Algebra charakterisieren und die benutzt werden, um die Probleme zu formulieren, akkadisch sind.

Eine Erfindung innerhalb der Schreiberschulen stimmt aber wenig mit anderen Quellen überein. Insbesondere widerspricht eine solche der Art, wie Probleme und Techniken, die zur selben Familie gehören, in griechischen und mittelalterlichen Quellen auftauchen. Eine genaue Untersuchung aller parallelen Materialien enthüllt eine ganz andere Geschichte – das Material ist zu riesig, um hier eine vollständige Präsentation der Argumente geben zu können, aber ein Teil davon ist in die folgende Diskussion eingewoben.

Die Feldmesser im zentralen Irak (vielleicht auch aus einer größeren Region, aber dies ist eine Hypothese, was diese frühe Epoche angeht) besaßen eine Tradition geometrischer Rätsel . Wir kennen solche professionellen Rätsel aus anderen prämodernen Umgebungen von mathematischen Praktikern (Rechenmeister, Buchhalter, Architekten und selbstverständlich Feldmesser) , deren Ausbildung auf einer Lehre beruhte und nicht durch eine mehr oder weniger gelehrte Schule übernommen wurde. Als ein Beispiel zitieren wir das Problem der „Hundert Vögel“, das man in zahlreichen chinesischen, indischen, arabischen und europäischen Aufgabensammlungen aus dem Mittelalter findet:

Jemand geht zum Markt und kauft 100 Vögel für 100 Dinare. Eine Gans kostet 3 Dinare, ein Huhn 2, und er bekommt 3 Spatzen für einen Dinar. Sag mir, wenn Du ein erfahrener Rechner bist, was er gekauft hat!1

Es gibt viele Lösungen. 5 Gänse, 32 Hühner und 63 Spatzen; oder 10 Gänse, 24 Hühner und 66 Spatzen usw. Wenn man allerdings ein Rätsel beantwortet, muss man nicht alle Lösungen angeben und auch keinen Beweis führen (außer der numerischen Verifikation dass die Antwort den gestellten Bedingungen genügt)2. Wer eine richtige Antwort geben kann, hat sich als fähiger Rechner „auch nit on sonders Auffmercken der Unwissenden“ erwiesen, wie ein Handbuch zur praktischen Arithmetik3 um 1540 sagt.

Die Lösung solcher Rätsel verlangt oft die Anwendung eines besonderen Tricks. Im vorliegenden Fall könnte man etwa bemerken, dass man jedesmal, wenn man eine Gans kauft, 3 Spatzen kaufen muss – das macht 4 Vögel für 4 Dinare – und 3 Spatzen für jedes Paar Hühner – das sind 5 Vögel für 5 Dinare.

Solche „Unterhaltungsaufgaben“ (wie man sie später genannt hat, nachdem man sie in eine mathematische Kultur eingebettet hat, die ihre Wurzeln in Schulen hatten, wo sie für mathematische Unterhaltung zuständig war) hatten eine doppelte Funktion in dem Milieu, aus dem sie stammten. Einerseits dienten sie der Ausbildung – auch in heutigen Schulen ist ein Löwe, der drei Mathematiklehrer pro Stunde frisst, eine willkommene Abwechslung von Kindern, die drei Süßigkeiten am Tag bekommen. Auf der anderen Seite (weil die besonderen Tricks selten in praktischen Rechnungen benutzt wurden) erlaubten sie den Lösern, sich wie „echte professionelle Rechner“ zu fühlen – dies ist eine Parallele zu dem, was wir oben über die Rolle des Sumerischen und der „fortgeschrittenen Mathematik“ für die babylonischen Schreiber gesagt haben.

Irgendwann zwischen 2200 und 1800 v. Chr. haben akkadische Feldmesser den Trick erfunden, der später „die akkadische Methode“ genannt wurde, nämlich die quadratische Ergänzung; um 1800 kursierten einigen wenige geometrische Rätsel über Quadrate, Rechtecke und Kreise, deren Lösungen auf diesem Trick basierten.

Eine Gemeinsamkeit dieser Rätsel war die Betrachtung nur solcher Elemente, die direkt in den Figuren auftauchten – etwa die Seite oder alle vier Seiten eines Quadrats, niemals aber „die 3-fache Fläche“ oder „ \frac{1}{3} der Fläche“. Man könnte sagen, dass die Aufgaben ohne Koeffizienten definiert waren, oder alternativ „mit natürlichen Koeffizienten“.

Steht {}_4c für „die vier Seiten“ und \square (c) für die Fläche eines Quadrats, d für die Diagonale und \sqsubset \hspace{-1.99997pt}\sqsupset \!\! (ℓ,w) für die Fläche eines Rechtecks, dann scheint die Liste der Rätsel die folgenden Aufgaben umfasst zu haben:

Darüber hinaus gab es Probleme über zwei Quadrate (gegeben ist die Summe oder Differenz der Seiten zusammen mit der Summe oder Differenz der Flächen); ein Problem, in welchem die Summe des Umfangs, der Durchmesser und die Fläche eines Kreises gegeben ist, sowie möglicherweise die Aufgabe d-c = 4 über ein Quadrat, mit der Pseudo-Lösung c = 10, d = 14; bei zwei Aufgaben über Rechtecke, die schon vor 2200 v. Chr. bekannt gewesen zu sein scheinen, sind im einen die Fläche und die Breite, im andern die Fläche und die Länge gegeben. Dies scheint alles zu sein.4

Diese Rätsel scheinen die altbabylonischen Schreiberschulen übernommen zu haben, wo sie der Ausgangspunkt für die Entwicklung der Algebra als einer eigenen Disziplin war. Die Schreiberschule übernahm die Tradition der Rätsel allerdings nicht unverändert. Ein Rätsel muss, damit es interessant wird, von auffälligen Größen (der Seite, allen vier Seiten usw.) sprechen; eine schulische Einrichtung dagegen neigt dazu, die Koeffizienten systematisch zu variieren – insbesondere eine Schule wie die der mesopotamischen Schreiber, die sich seit der Erfindung der Schrift im vierten Jahrtausend immer auf systematische Variationen gestützt hat.5 In einem Rätsel beginnt man gewöhnlich mit natürlich vorhandenen Größen (etwa den vier Seiten eines Quadrats) und kommt erst dann zu den abgeleiteten Größen (hier die Fläche). In der Schule dagegen wird gewöhnlich die Prozedur betont, und dann spricht man zuerst von der Fläche, die dann im Nachhinein eine „Projektion“ oder eine „Basis“ erhält.

Solche Überlegungen erklären, warum eine Aufgabensammlung über Quadrate wie BM 13901 von Problemen zu einem über zwei und dann drei Quadraten fortschreitet, und warum alle Aufgaben außer der archaisierenden #23, „die vier Seiten und die Fläche“, immer zuerst von Flächen sprechen, bevor die Seiten erwähnt werden. Aber die Transformation hört dort nicht auf. Zum einen verlangte die Einführung der Koeffizienten die Einführung einer neuen Technik, dem Wechsel des Maßstabs in einer und dann in zwei (wie in TMS IX #3) Richtungen; die kühne Variation der Addition von Volumina und Flächen führte zu einer weit radikaleren Neuerung, nämlich dem Gebrauch von Faktorisierungen. Die Erfindung dieser neuen Techniken machte sogar die Lösung von noch komplizierteren Problemen möglich.

Als Folge des Drills der systematischen Variation wurde die Lösung der fundamentalen Probleme allerdings eine Banalität, auf der sich kein professionelles Selbstbewusstsein aufbauen ließ: folgerichtig wurde die Arbeit an komplizierten Problemen nicht nur eine Möglichkeit, sondern geradezu eine kulturelle Notwendigkeit.

Man darf annehmen, dass die Orientierung des Schreiberberufs hin zu einer größeren Bandbreite von professionellen Verpflichtungen dazu geführt hat, dass man Probleme außerhalb der abstrakten Geometrie der Feldmessung erfunden hat, bei welchen die algebraischen Methoden eingesetzt werden konnten, und dass daher, obwohl „Forschung“ nicht das Ziel einer Schreiberschule gewesen ist, die Möglichkeiten der Darstellung untersucht wurden. Nach dieser Rekonstruktion war es also der Transfer zur Schule, welcher der Technik des cut-and-paste ermöglichte, zum Kern einer echten Algebra zu werden.

Andere Veränderungen waren weniger folgenreich, aber dennoch kaum zu übersehen. Die bevorzugte Seite eines Quadrats in Rätseln war die 10, und dies blieb bis ins sechzehnte Jahrhundert n. Chr. so. In der Schule war der bevorzugte Wert 30′, und wenn eine antiquierte Aufgabe 10 beibehielt, dann wurde sie als 10′ interpretiert.6 Schließlich wurde, wie wir oben auf S. 38 gesehen haben, das hypothetische „jemand“ beim Stellen einer Frage durch das professorale „ich“ ersetzt.

BM 13901 #23 (Seite 82), hält an den „vier Seiten und der Fläche“ (in dieser Reihenfolge) und der Seitenlänge 10 fest, ändert aber die Größenordnung; es handelt sich also um eine charakteristisches Fossil, das in Richtung der Rätseltradition zeigt. Sogar die Sprache ist archaisierend und bedient sich der Sprache von Feldmessern, die nicht in der Schreiberschule erzogen worden waren. Wenn wir den Platz der Aufgabe gegen Ende des Texts (#23 von 24 Problemen, wobei #24 das verwickeltste von allen ist), dann können wir es als das „letzte Problem vor Weihnachten“ ansehen.

Es scheint, als hätte die erste Entwicklung der algebraischen Disziplin in der Gegend von Eshnunna stattgefunden, das nördlich von Babylon liegt, und zwar während der ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts7. Aus dieser Gegend und dieser Zeit besitzen wir einige mathematische Texte, die ausnahmsweise regulär ausgegraben wurden und damit datiert werden können. Damals war Eshnunna ein kulturelles Zentrum des ganzen nördlich-zentralen Teils des heutigen Irak; Eshnunna etnwickelte auch die erste Gesetzgebung außerhalb des Südens Sumers. Der Text Db2–146 (unten Seite 133) stammt von einer Grabungsstätte, die dem Königreich von Eshnunna angehört hat.

Etwa um 1761 wurde Eshnunna von Hammurabi erobert und zerstört. Wir wissen, dass Hammurabi die Idee einer Gesetzessammlung von dort erhielt und dürfen annehmen, dass er auch versklavte Gelehrte mitbrachte. Ob darunter auch Gelehrte waren, die sich mit dem Unterricht von Mathematik beschäftigten, können wir nur raten (die Schichten des zweiten Jahrtausends von Babylon liegen tief unter den Überresten der Stadt des ersten Jahrtausends), aber jedenfalls übernahm der ehemals sumerische Süden die neue mathematische Disziplin um etwa 1750 – die Tafel AO 8862 (Seite 66), bei der die Terminologie und das Format noch nicht festgelegt war, scheint ein frühes Beispiel aus dieser Zeit zu sein.

Aufgaben von verschiedenen Grabungsstätten in der Umgebung von Eshnunna drehen sich um viele der Themen, die aus späteren Zeiten bekannt sind – die frühe Rechtecks-Variante der Aufgabe vom „abgebrochenen Schilfrohr“, die wir auf Seite 75 erwähnt haben, stammt von dort. Erstaunlicherweise gibt es aber kein einziges Beispiel einer Darstellung. Andererseits enthält AO 8862 bereits ein Beispiel in welchem die Anzahl der Arbeiter, ihrer Arbeitstage und der von ihnen hergestellten Ziegel „angehäuft“ werden. Die Prozedur wird nicht erklärt, aber ganz offenbar müssen die Anzahl der Arbeiter und der Arbeitstage durch die beiden Seiten eines Rechtecks dargestellt werden – und die hergestellten Ziegel also durch die mit einer Konstanten (Ziegel pro Tag und Arbeiter) multiplizierten Fläche. Ein großer Teil der Texte aus Eshnunna beginnt mit „Wenn Dich jemand fragt [...]“ , eine Redewendung, die weder auf AO 8862 noch in irgendeinem späteren Text (außer bruchstückhaft auf dem archaisierenden Problem BM 13901 #23) zu finden ist.

Aus der Zeit wenig später haben wir eine Reihe von Texten, die, nach ihrer Orthographie zu beurteilen, im Süden geschrieben wurden. Einige Textgruppen genügen einem wohldefinierten Kanon, was Format und Terminologie (nicht dieselbe in allen Gruppen) angeht, was ein bewusstes Streben nach Regularität nahelegt (die VAT- und Str-Texte gehören alle hierher). Um 1720 herum trennte sich der ganze Süden jedoch vom altbabylonischen Reich, und danach wurde dort die Schreiberkultur auf ein Minimum reduziert; Mathematik scheint nicht überlebt zu haben. Ab dem späten 17. Jahrhundert haben wir eine nennenswerte Anzahl von Texten aus Sippar, etwas nördlich von Babylon (BM 85200+VAT 6599 ist einer von ihnen), und eine weitere Reihe von Texten aus Susa im westlichen Iran (die TMS-Texte), welche, das legt ihre Terminologie nahe, vom nördlichen, zuerst aus Eshnunna bekannten Typ abstammen. Und danach nichts mehr ...

Das Erbe

Im Jahre 1595 beendete ein Überfall der Hethiter den schon schwachen altbabylonischen Staat und dessen soziales System. Nach dem Überfall übernahmen die Kassiten die Macht, ein Volksstamm, dessen Angehörige als Fremdarbeiter und Plünderer schon seit den Zeiten von Hammurabi in Babylon gelebt hatten. Dies setzte dem altbabylonischen Zeitalter und seiner besonderen Kultur ein abruptes Ende.

Die Schreiberschule verschwand. Für Jahrhunderte ging der Gebrauch der Schrift stark zurück, und sogar danach wurden gelehrte Schreiber nur innerhalb von „Schreiberfamilien“ unterrichtet (anscheinend wirkliche Familien, in denen der Beruf vom Vater an den Sohn tradiert worden war). Sogar höhere Mathematik verschwand. Der soziale Bedarf an praktischer Rechnung wurde geringer, verschwand aber nicht; aber der professionelle Stolz der gelehrten Schreiber basierte nun auf Zugehörigkeit zu einer verehrten Tradition. Der Schreiber verstand sich jetzt als jemand, der zu schreiben verstand, sogar Literatur, und nicht als Rechner. Ein Großteil der sozial notwendigen Rechnungen wurde wohl Spezialisten anvertraut, deren dürftige Ausbildung in Literatur sie nicht als „Schreiber“ qualifizierte (im ersten Jahrtausend ist eine solche Aufteilung ziemlich sicher).

Aus den 1200 Jahren, welche dem Zusammenbruch der altbabylonischen Kultur folgten, ist kein einziger Algebratext erhalten. Dies hat noch nicht viel zu bedeuten, weil nur sehr wenige auch nur ansatzweise mathematische Texte überlebt haben (einige Texte zur Buchhaltung, Spuren von Feldmessung, einige Tabellen von Reziproken und Quadraten). Aber als einige wenige von gelehrten Schreibern verfassten wirklich mathematische Texte nach 400 Jahren wieder auftraten, erlaubt uns die Terminologie das, was innerhalb der Umgebung der Schreiber weitergegeben wurde, von dem zu unterscheiden, was nochmals aus der Umgebung der „Laien“ übernommen worden war. Zur letzteren Kategorie gehört eine Handvoll von Problemen über Quadrate und Rechtecke. Sie enthalten keine Darstellung, keine Variation von Koeffizienten , nichts Anspruchsvolles wie die Aufgabe vom „abgebrochenen Schilfrohr“ oder dem Handel von Speiseöl, nur Aufgaben nahe an der Tradition der Rätsel; es ist kaum gerechtfertigt, hier von Beispielen für eine „Algebra“ zu reden.

Diese späten Texte informieren uns offensichtlich nicht, weder direkt noch indirekt, über die Umgebung in der die Rätsel weitergegeben worden waren, obwohl eine Fortsetzung der Tradition der Feldmesser die plausibelste Erklärung wäre. Quellen aus der klassischen Antike und dem islamischen Mittelalter machen zumindest klar, dass die Tradition, welche einst die altbabylonische Algebra inspiriert hatte, trotz des Verschwindens ihres anspruchsvolleren Nachwuchses überlebt hat.

Der beste Beleg dafür kommt von einem arabischen Handbuch der praktischen Geometrie, das etwa um das Jahr 800 n. Chr. herum geschrieben wurde (vielleicht später, aber mit einer Terminologie und in einer Tradition, die auf diesen Zeitraum hindeutet), und das uns in einer lateinischen Übersetzung8 aus dem 12. Jahrhundert erhalten ist. Es enthält all die Probleme, welche wir oben der Rätseltradition zugeschrieben haben, bis auf diejenigen über zwei Quadrate und das Kreisproblem – insbesondere das Problem über „die vier Seiten und die Fläche“, in derselben Reihenfolge wie auf BM 13901 #23, und immer noch mit der Lösung 10 (nicht 10′). Es bewahrt auch den komplexen Wechsel zwischen grammatikalischen Personen, das hypothetische „jemand“, der die Fragen in den frühesten Schultexten stellt, die Ermahnung, etwas im Kopf zu behalten, und sogar die gelegentliche Begründung eines Schritts der Prozedur mittels des Zitats von Wörtern der Aussage als etwas, das „er“ gesagt hat. Aufgaben derselben Art tauchen in den darauffolgenden Jahrhunderten immer wieder auf – „die vier Seiten und die Fläche“ (anscheinend zum letzten Mal) in Luca Paciolis Summa de Arithmetica aus dem Jahre 1494, „die Seite und die Fläche“ eines Quadrats im Libro de algebra en arithmetica y geometria von Pedro Nuñez aus dem Jahre 1567 (in beiden Fällen in der traditionellen Reihenfolge der Rätsel, und in der Summa mit Lösung 10).

In der griechischen Mathematik sind „algebraische“ Probleme zweiten Grades selten, aber nicht ganz abwesend. Eine dieser Aufgaben ist besonders interessant: in einem der Teile der als Geometrica bekannten Textsammlung, die traditionell aber fälschlicherweise Heron zugeschrieben wird, tauchen „die vier Seiten und die Fläche“ wieder auf, mit dem Unterschied, dass aus den vier Seiten „der Umfang“ geworden ist. Hier ist die geometrische Beschreibung so genau, dass wir ihr sogar die Orientierung der Figur entnehmen können: das Rechteck, das die vier Seiten repräsentiert, wird unten hinzugefügt (siehe Abb. 8.1). Der Text spricht explizit vom Rechteck, das 4 c repräsentiert, als „4 Fuß“.

Abb. 8.1: „Die Fläche zum Umfang hinzugefügt“ der Geometrica.

Abb. 8.1: „Die Fläche zum Umfang hinzugefügt“ der Geometrica.

Seit der Entdeckung der babylonischen Algebra wurde oft behauptet, dass eine Komponente der theoretischen Geometrie der Griechen, nämlich Prop. II.1-II.10 der Euklidischen Elemente, eine Übersetzung der Ergebnisse der babylonischen Algebra in die Sprache der Geometrie sei. Diese Idee ist nicht unproblematisch. Euklid löst beispielsweise keine Aufgaben, sondern beweist Konstruktionen und Sätze. Andererseits scheint die geometrische Interpretation der altbabylonischen Technik für diese Annahme zu sprechen.

Wenn wir aber die zehn Propositionen II.1–10 der Elemente mit der Liste der ursprünglichen Rätsel vergleichen, dann machen wir eine unerwartete Entdeckung: alle zehn Propositionen können direkt mit der Liste verbunden werden. Sie zeigen, dass die naiven Methoden der Rätseltradition durch die strengsten theoretischen Standards der Zeit Euklids begründet werden können. Auf der anderen Seite steht nichts bei Euklid, das mit den Erfindungen der altbabylonischen Schule verknüpft werden kann. Deren Algebra hat sich als Sackgasse erwiesen – nicht trotz, sondern eher wegen ihres hohen Niveaus, die ihr Überleben nur im ganz besonderen Umfeld der altbabylonischen Schule erlaubte.

Die außerordentliche Bedeutung der Elemente in der Geschichte der Mathematik steht außer Zweifel. Nichtsdestotrotz geht der wichtigste Einfluss der Feldmessertradition in der modernen Mathematik auf deren Einwirkung auf die mittelalterliche arabische Algebra zurück.

Auch die arabische Algebra scheint Elemente der Rätseltradition übernommen zu haben. Wir wir oben erwähnt haben (Seite 98), handeln deren fundamentale Gleichungen von Geldbeträgen („Besitz“) und deren Quadratwurzeln. Sie wurden nach Regeln ohne Beweis gelöst, wie etwa das folgende über „ein Besitz und zehn seiner Wurzeln sind 39 Dinaren gleich“:

Du halbierst die Wurzeln, welche in dieser Frage 5 sind. Dann multiplizierst Du diese mit sich selbst, was 25 ergibt; addiere sie zu 39, und es ergibt sich 64. Du sollst daraus die Quadratwurzel ziehen, welche 8 ist. Dann ziehe dies von der halben Wurzel ab, nämlich von 5. Dann bleibt 3 übrig, was die Wurzel des Besitzes ist. Und der Besitz ist 9.

Bereits der Autor der ersten bekannten Abhandlung über Algebra (die wahrscheinlich erste Abhandlung über dieses Thema9) – al-Khwārizmī, der in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts n. Chr. gelebt hat – war nicht mit Regeln zufrieden, die nicht auf Überlegungen oder Beweisen beruhten. Er übernahm daher die geometrischen Beweise der Tradition der Feldmesser, welche den Abbildungen 3.1, 3.3, 4.1 und vor allem der charakteristischen Konfiguration in Abb. 4.12 entsprechen. Später betrachteten Mathematiker wie Fibonacci, Luca Pacioli und Cardano diese Beweise als den wesentlichen Kern der Algebra, während ihnen die von al-Karajī, as-Samaw’al und ihren Nachfolgern erschaffene polynomiale Algebra (eine weitere großartige Sackgasse) unbekannt blieb. Auf diesem Weg eroberte die alte Feldmessertradition die Disziplin von innen; das Wort census, die lateinische Übersetzung von „Besitz“, wurde so zum Wort für „Quadrat“. Dies geschah in Wechselwirkung mit Buch II von Euklids Elementen, das ebenfalls, wie wir gesehen haben, in einem gewissen Sinn in der Tradition der Feldmesser steht.

Obwohl also die Algebra der Keilschrifttafeln eine Sackgasse war – glorreich, aber dennoch eine Sackgasse – waren es die Prinzipien, welche sie von den ungelehrten Praktikern geborgt hatten, nicht. Ohne diese Inspiration ist es schwierig zu sehen, wie die moderne Mathematik hätte entstehen können. Oder wie man von Gott gesagt hat: „Würde er nicht existieren, müsste man ihn erfinden“.

Fußnoten

Dies ist eine „Durchschnittsvariante der Aufgabe. Die Preise variieren ebenso wie die Vogelarten (manchmal handelt es sich auch andere Tiere). Fast immer geht es allerdings um 100 Tiere und 100 Geldeinheiten. Meist sind es drei Tierarten, von denen zwei mehr als einen Dinar kosten und die dritte weniger.

Wer mag, kann versuchen die vollständige Lösung mit oder ohne negative Zahlen (die für verkaufen statt kaufen stehen würden) zu finden und zeigen, dass es eine unter den gegebenen Umständen vollständige Lösung ist. Dies wurde von dem arabischen Mathematiker Abū Kāmil um 900 n. Chr. gemacht. In der Einführung zu seiner Abhandlung darüber nutzte er die Gelegenheit, sich über Praktiker lustig zu machen, denen die theoretische Einsicht fehlte und die nur irgend eine Lösung angaben – und die daher die Frage als Rätsel und nicht als ein mathematisches Problem auffassten.

Siehe den Abschnitt „Schimpfrechnung“ in Christoph Rudolffs Künstliche rechnung mit der ziffer vnd mit den zalpfenningen, Nürnberg 1540.

In altbabylonischen Texten gibt es eine geschlossene Gruppe, welche aus den vier Aufgaben über Rechtecke besteht, bei denen die Fläche zusammen mit der Länge, der Breite, oder ihrer Summe oder Differenz gegeben ist. Wir dürfen annehmen, dass der Trick der quadratischen Ergänzung zuerst erfunden wurde, um die Anzahl dieser Art von Problemen von zwei auf vier zu erhöhen.

Wer eine Algebra der Gleichungen nur deswegen praktiziert, um Lösungen zu finden, hält vielleicht nicht viel von den Koeffizienten – sie sind schließlich nur lästige Dinge, die eliminiert werden sollen. Vieta und seine Generation haben aber die Entfaltung der algebraischen Theorie im 17ten Jahrhundert dadurch ermöglicht, dass sie den Gebrauch allgemeiner Symbole für die Koeffizienten einführten. Entsprechend haben die altbabylonischen Lehrer, als sie Koeffizienten eingeführt haben, die Entwicklung einer algebraischen Methode ermöglicht – ohne dass die Manipulation von Koeffizienten verfügbar und standardisiert ist, ist eine freie Darstellung unmöglich.

Um einzusehen, dass 10 (und 30) genau diese Rolle spielten, muss man zeigen, dass 10 nicht die übliche Wahl in anderen Situationen war, in denen ein Parameter frei gewählt wurde. Durch Vergleichen vieler Quellen findet man, dass 10 (oder 30 in Texten, die von der Schultradition abstammen) die bevorzugte Seitenlänge nicht nur von Quadraten war, sondern auch die anderer Polygone, genau wie 4, 7 und 11 die bevorzugten Zahlen in Aufgaben zu Vielfachen und Teilern waren, und zwar nur dort (siehe Fußnote 4, Seite 53.

Eshnunna wurde 2075 von Ur III unterworfen, befreite sich aber bereits 2025 wieder.

Das Liber mensurationum wird einem nicht identifizierten Abū Bakr, „der Heus genannt wird“, zugeschrieben, und wurde von Gerhard von Cremona übersetzt.

Das Zitat stammt aus dieser Abhandlung und ist in „konformer Übersetzung“ aus der Lateinischen Version des 12. Jahrhunderts (der beste Zeuge für den Originaltext) wiedergegeben.