1 Stationen der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft

Jürgen Renn, Horst Kant, Birgit Kolboske

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10.34663/9783945561010-02

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Renn, Jürgen, Kant, Horst and Kolboske, Birgit (2015). Stationen der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. In: „Dem Anwenden muss das Erkennen vorausgehen“: Auf dem Weg zu einer Geschichte der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft (Second Extended Edition). Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

1.1 Eingrenzung des Feldes

Wissenschaft neigt, was ihre Vergangenheit betrifft, zu Vergesslichkeit. Sie macht sich frei von überholten Vorurteilen und lässt unfruchtbar gewordene Kontroversen ruhen. Die Diskussion zukünftiger Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft richtet sich vor allem an der Zukunft und ihren Herausforderungen aus. Dennoch mag es sich auch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ihren Blick in die Zukunft richten, lohnen, zu fragen, ob und was man aus der Vergangenheit lernen kann. Anknüpfend an die Tradition der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ist die Max-Planck-Gesellschaft heute eine einzigartige Institution der Grundlagenforschung, die weltweit Attraktivität und Vorbildwirkung besitzt. Auf welchen Erfahrungen und Prinzipien beruht diese Wirkung? Wie fanden die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) und dann die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) ihre Themen, wo wurden Durchbrüche erreicht und welche strukturellen Voraussetzungen haben erreichte Erfolge? Wie verhält sich die Dynamik der Wissenschaftsentwicklung zur gesellschaftlichen Dynamik? So einfach diese Fragen erscheinen mögen, so schwierig lassen sie sich beantworten, denn hier liegen wenig oder nur teilweise bearbeitete historische Forschungsprobleme und kaum entsprechende Ergebnisse vor. Schwerpunktmäßig widmet sich dieser Essay, der einige dieser genannten Probleme und Fragen etwas näher beleuchten soll, daher immer noch der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Anfangsphase der Max-Planck-Gesellschaft.

Eine historische Analyse und Reflexion der inneren und äußeren Bedingungen wissenschaftlicher Erfolge erscheint immer dringender – sowohl angesichts globaler Herausforderungen, die nur durch die Wissenschaft zu bewältigen sind, als auch angesichts historischer Veränderungen, denen die Rolle von Forschungsorganisationen wie die der Max-Planck-Gesellschaft unterworfen ist. Welche Rolle können zukünftig an nationalstaatliche Strukturen gebundene Institutionen wie die Max-Planck-Gesellschaft in einer globalisierten Wissenschaft spielen? Wie konkurrenzfähig ist die Max-Planck-Gesellschaft in Hinsicht auf Flexibilität und kritische Masse im Vergleich zu privatwirtschaftlich verfassten Forschungsinstitutionen in den USA? Wie verändert die Stärkung exzellenter Forschung an den Universitäten und die Ausweitung der institutionell geförderten Grundlagenforschung auf andere Forschungsinstitutionen die Arbeitsteiligkeit des deutschen Forschungssystems? Welche Aufgaben sollte die Max-Planck-Gesellschaft im weiteren Ausbau einer weltweiten, auf dem Internet beruhenden Forschungsinfrastruktur übernehmen? Ohne gründliche historische Untersuchungen, die Erkenntnisprozesse in den Kontext gesellschaftlicher Dynamik stellen, lassen sich solche Fragen nur oberflächlich beantworten. Dieser Aufgabe wird sich ab 2014 ein vom Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, Peter Gruss, initiiertes Forschungsprogramm zur Geschichte der Gesellschaft widmen.

Mit dem vorliegenden Beitrag wollen und können wir künftigen Ergebnissen des neuen Forschungsprojekts nicht vorgreifen. Anhand ausgewählter historischer Beispiele wollen wir jedoch einige für die Max-Planck-Gesellschaft auch heute noch wirksame Strategien aufzeigen und die Fruchtbarkeit einer Perspektive deutlich machen, die zugleich die Dimension der inhaltlichen Herausforderungen von Erkenntnisprozessen als auch die ihrer Bewältigung im Rahmen institutionalisierter Forschung in den Blick nimmt. Darüber hinaus versuchen wir auch die Gefährdungen deutlich zu machen, die sich immer dann mit wissenschaftlicher Forschung verbinden, wenn diese moralische und gesellschaftliche Kontexte ausblendet, und sich stattdessen ausschließlich an immanenten Effizienzkriterien und äußeren Opportunitäten orientiert. Hans F. Zacher, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft von 1990 bis 1996, hat es so formuliert: „Forschung ist ein soziales Geschehen, eine soziale Wirklichkeit. Das bedeutet zentral: Wissenschaft ist einerseits ein in sich autonomes und geschlossenes Geschehen; und doch ist sie andererseits so, wie Gesellschaft und Staat sie ermöglichen, in Dienst nehmen und eingrenzen.“1

Der Zeitraum, den wir dabei in den Blick nehmen, reicht von der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1911 bis zur Amtsübergabe von Präsident Adolf Butenandt an seinen Nachfolger Reimar Lüst 1972. In dieser vorläufigen Skizze kann aufgrund des erreichten Forschungsstandes weder eine tiefgreifende Analyse der Forschungspraxis noch eine detaillierte Darstellung von Krisen und Innovationen der Max-Planck-Gesellschaft und ihrer Institute, sondern bestenfalls eine begründete Problemauswahl geleistet werden. Vor dem Hintergrund der umfangreichen Forschungsarbeiten des 2005 abgeschlossenen Programms zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus stehen dabei naturgemäß Themen wie die Verknüpfung von Wissenschaft und Politik, Kontinuität und Verdrängung, die Handlungsspielräume der Präsidenten sowie die Problematik internationaler Beziehungen im Vordergrund. Aber auch zu diesen Themen können hier nur erste Überlegungen vorgestellt werden. Denn das Projekt zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus hat zugleich gezeigt, wie riskant pauschalisierende Verallgemeinerungen sind, ohne zunächst die umfangreiche und komplexe Quellenlage detailliert zu studieren. Diese Aufgabe steht einer Geschichtsschreibung der Max-Planck-Gesellschaft noch bevor. Abgesehen von vereinzelten Jubiläumsbänden, Chronologien, Institutsgeschichten und biografischen Studien ist die historische Forschung zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft noch immer weitgehend terra incognita.

Fortschritt ist kein additiver Prozess, sondern mit der Umstrukturierung von Wissenssystemen verbunden. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die Entstehung der modernen Quanten- und Relativitätsphysik und die durch sie eingeführten Veränderungen der klassischen Begriffe von Raum, Zeit und Materie – mit weitreichenden Auswirkungen auf die gesamte Wissenschaft. Solche Innovationen sind oft nicht das Resultat spontaner Paradigmenwechsel, sondern einer langfristigen, konfliktreichen Zusammenführung heterogener Wissensbestände. Die Identifikation und Lösung der produktiven inneren Konflikte von Wissenssystemen verlangt oft eine andere Perspektive als die, die zu ihrer Erzeugung führte. Eine solche Sicht entsteht eher an der Peripherie als im Zentrum entsprechender Hauptentwicklungsströme. Die Rolle des Querdenkers Albert Einstein (1879–1955) für die Begründung der modernen Physik mag hierfür als Beispiel dienen.2

Der langfristige, heterogene und diskontinuierliche Charakter des wissenschaftlichen Fortschritts und die Notwendigkeit, solche Außenseiterperspektiven einzubeziehen, stellt besondere Anforderungen an die Organisation von Forschung, die in einem Spannungsverhältnis zur unbestreitbar ebenfalls notwendigen Fortschreibung der Hauptströmungen steht. Der Erfolg der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft in den vergangenen hundert Jahren beruhte unter anderem darauf, dieser Herausforderung besser als andere Forschungsorganisationen gewachsen zu sein und oft als Katalysator für die Umstrukturierung von Wissenssystemen gedient zu haben. Die langfristige und nachhaltige Förderung solcher Umstrukturierungsprozesse durch institutionelle Forschungsförderung auch abseits des Mainstreams spielt hier eine Schlüsselrolle und erscheint als die eigentliche Mission der Max-Planck-Gesellschaft.

1.2 Innovative Antwort auf eine Krise

Das Humboldt’sche Bildungsideal der Einheit von Lehre und Forschung an den Universitäten und Hochschulen geriet Ende des 19. Jahrhunderts durch das zunehmende Tempo der Wissenschaftsentwicklung, durch industrielle Anforderungen, aber auch durch zunehmende nationale, wenn nicht nationalistische Einflüsse an Grenzen, die eine Gründung außeruniversitärer Forschungsinstitute nahelegten. Die Errichtung solcher selbständiger, ausschließlich der Forschung gewidmeter Institute entsprach gewissermaßen dem Zeitgeist der Jahrhundertwende, doch die weitere Ausgestaltung dieser Idee erwies sich als eine der bedeutendsten institutionellen Innovationen des 20. Jahrhunderts. Sie war zunächst einmal eine Konsequenz aus dem enorm anwachsenden Forschungsbedarf der Industrie und anderer Praxisbereiche, der von – mehr oder minder entwickelten – eigenen Industrielaboratorien zumindest im Grundlagenbereich nicht abgedeckt werden konnte. Sie war zugleich die Folge einer universitären Krise, die an die heutige Hochschulproblematik erinnert. Die Universitäten hatten sich zu Massenlehranstalten entwickelt, hielten aber am Ordinarienprinzip und einem ausschließlich am Lehrbedarf orientierten Stellenplan fest. Man war darüber hinaus zu der Einsicht gelangt, dass der wissenschaftliche und technische Fortschritt angesichts der immer kürzer werdenden Zeitspanne zwischen Entdeckung und Innovation permanent eines gewissen Vorrats an Ergebnissen naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung bedürfe, um wirksam umgesetzt werden zu können. Außeruniversitäre Forschungseinrichtungen gab es seit längerem. Als ein Beispiel in Deutschland mit nationaler und internationaler Ausstrahlung sei die 1887 gegründete Physikalisch-Technische Reichsanstalt genannt.3 Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es Überlegungen, eine ähnlich geartete Chemische Reichsanstalt zu schaffen – erste Pläne dazu entstanden um 1905.4

Es waren diese Überlegungen, die schließlich zur Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft führten. Doch stellte sich die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gegenüber den bisherigen Konzepten als eine wesentliche institutionelle Neuerung dar. Sie hätte sich womöglich nicht durchsetzen lassen, hätte sich nicht ein Gelehrter vom Range des Theologen und Generaldirektors der Königlichen Bibliothek Adolf von Harnack (1851–1930) mit Wort und Tat für diese neue Organisationsform der Wissenschaft in Deutschland eingesetzt.

Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft stellte eine zukunftsweisende Form der Wissenschaftsorganisation dar, die strukturelle Offenheit wissenschaftlicher Gestaltung mit der Durchsetzungsfähigkeit institutioneller Entscheidungen auf neue Weise verband. Im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Institutionen, wie den Universitäten, den Akademien, den Reichsanstalten und den Labors der Industrie, konnten in ihrem Rahmen insbesondere interdisziplinäre Forschungsschwerpunkte unter maßgeblicher Mitwirkung der Wissenschaft gesetzt werden, die in den tradierten Strukturen der Universität keinen Raum hatten, oder nicht unter einer unmittelbaren Auftrags- und Anwendungsperspektive standen. Dabei konnten Politik und Gesellschaft zugleich so einbezogen werden, dass eine erfolgreiche Realisierung neuer Perspektiven erreicht werden konnte. Auch die Entwicklung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft als Ganzes wurde dabei von wissenschaftlicher Prioritätensetzung mitbestimmt. Die Möglichkeit der Autonomie von Wissenschaft innerhalb der Institute wurde zumindest prinzipiell ermöglicht, war jedoch naturgemäß stets gefährdet durch den Umstand, dass gesellschaftliche Kontexte Bedingungen und Spielräume für Wissenschaft setzten.5

Die genannten Hintergründe waren jedoch nicht nur ein deutsches Problem, sondern müssen im Zusammenhang mit der „Genese des Industrie- und modernen Interventionsstaats“6 als internationale Entwicklung – mit idiosynkratrischen Unterschieden – gesehen werden. Doch spielte die nationalistische Stimmungsmache gerade auch in Deutschland eine große Rolle. Man schürte Befürchtungen, dass man der internationalen Konkurrenz trotz der bisher international hoch angesehenen deutschen Lehr- und Forschungsanstalten in der Zukunft nicht mehr standhalten könnte. „Unsere Führung auf dem Gebiete der Naturforschung ist nicht nur bedroht, sondern wir haben dieselbe bereits in wichtigen Teilen an das Ausland abgeben müssen“, bediente Harnack solche, nicht nur nationalistischen Bedenken.7 War das auch durchaus übertreibende Rhetorik, so verfehlte sie ihre Wirkung nicht.

Zur innovativen Gründungsidee gehörte,

daß die zu schaffenden selbständigen, nicht den Universitäten und Akademien inkorporierten Forschungsinstitute auf den Gebieten, in denen intensive und aufwendige Grundlagenforschung nötig erschien, zwar mit Hilfe und, nach preußischer Tradition, unter der Aufsicht des Staates zustande kommen und arbeiten, aber doch weithin von privater Seite finanziert werden sollten.8

In seiner ausführlichen Denkschrift für Wilhelm II. (1859–1941) zur Gründung einer Forschungsorganisation unter dessen Namen führte Harnack im November 1909 weiter aus:

Forschungsinstitute brauchen wir, nicht eins, sondern mehrere, planvoll begründet und zusammengefaßt als Kaiser-Wilhelm-Institut für naturwissenschaftliche Forschung. [...] Es muß zu allgemeiner Anerkennung bei den Einsichtigen, in dem Staate und in dem ganzen Volke kommen, daß unser Betrieb der Naturwissenschaften eines neuen Hilfsmittels bedarf [...], nämlich der Forschungsinstitute, die rein der Wissenschaft dienen sollen.9

Sehr wichtig sei es,

die Zwecke der zu gründenden Institute nicht von vornherein zu spezialisieren, sondern in den weitesten Grenzen zu halten. Die besondere Arbeitsrichtung sollen die Institute durch die Persönlichkeit des sie leitenden Gelehrten erhalten sowie durch den Gang der Wissenschaft selbst. Die Institute müssen so angelegt und ausgestattet sein, daß sie die verschiedensten Untersuchungen ermöglichen; wenn man ihnen aber von vornherein spezielle Zwecke vorschreiben würde – sei es auch solche, die heute im Mittelpunkt des Interesses stehen –, würde man leicht auf einen toten Strang geraten, da auch in der Wissenschaft ein Acker sich oft überraschend schnell erschöpft und erst nach Jahrzehnten wieder mit Erfolg in Angriff genommen werden kann.10

Um den Wissenschaftlern die volle Konzentration auf diese Aufgaben zu ermöglichen, sollten sie frei von Lehrverpflichtungen sein (wobei es natürlich ihnen selbst überlassen bliebe, zu speziellen Themen Vorlesungen oder Seminare abzuhalten).

Die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft trug die typischen Züge ihrer Zeit und ihres Umfeldes. Sie resultierte aus Vorschlägen einzelner renommierter Gelehrter, Plänen der preußischen Staatsverwaltung und Interessen der Wirtschaft. Sie trat unter dem Protektorat des Kaisers ins Leben, ein Aspekt durch den sich die beteiligten Verantwortlichen zu Recht hohes gesellschaftliches Ansehen erhofften, dem sich auch die in Betracht kommenden Förderer aus Industrie- und Finanzkreisen nicht entziehen könnten.11 Dass Harnacks Engagement für eine innovative Forschungsorganisation durchaus riskant war, zeigt sich daran, wie sich seine Beteiligung an der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft auf seine Stellung in der preußischen Akademie auswirkte. Obwohl Harnack durch die Verfassung der Geschichte der Akademie sowie durch seine Rolle als gefeierter Festredner bei ihrem 200. Jubiläum geradezu dafür prädestiniert war, das Amt eines der Beständigen Sekretare zu übernehmen, überging ihn die Akademie bei der Neuwahl im August 1911 und provozierte damit einen Eklat.12

War die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft von vornherein durchaus als Institution des Reiches gedacht – auch das Protektorat des Kaisers sprach dafür – so war Wissenschaftspolitik im Reichsinnern nach wie vor Ländersache und blieb es auch in der Weimarer Zeit. Immerhin hatte sich Preußen, insbesondere durch die weitsichtige Politik des preußischen Ministerialdirigenten und einflussreichen Wissenschaftspolitikers Friedrich Althoff (1839-1908), hierin eine führende Position erobert, und so war der staatliche Hauptpartner bei der Realisierung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft das Preußische Ministerium der geistlichen-, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten (nach 1918 Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung).13

1.3 Die Gründungsjahre

Die Umsetzung der Pläne zur Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft erfolgte mit erstaunlicher Geschwindigkeit: Drei Monate nach der feierlichen Ankündigung des Kaisers auf der 100-Jahrfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität, der heutigen Humboldt-Universität zu Berlin, fand am 11. Januar 1911 die konstituierende Sitzung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in der Königlichen Akademie der Künste am Pariser Platz statt. Am 23. Januar 1911 wurde Adolf von Harnack vom Senat der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zum Präsidenten gewählt. Die ersten beiden Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWI) wurden dann bereits am 23. Oktober 1912 in Berlin-Dahlem eröffnet: das KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie unter Leitung von Fritz Haber (1868–1934) und das KWI für Chemie unter Ernst Otto Beckmann (1853–1923). Die Wahl des Standortes ging auf Pläne Althoffs zurück, die Berliner Universität aufgrund des innerstädtischen Platzmangels an den Stadtrand zu verlagern.14 Die ehemalige Domäne Dahlem wurde als vornehmer Villenvorort konzipiert, dem wissenschaftliche Einrichtungen eingegliedert werden sollten.

Abb. 1.1: Adolf von Harnack, ca. 1912.

Abb. 1.1: Adolf von Harnack, ca. 1912.

Bereits im Gründungsjahr hatte die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ihr Wirkungsfeld über die Grenzen Deutschlands hinaus verlagert und mit dem Kauf der Zoologischen Station Rovigno in Istrien am 1. Oktober 1911 die erste Institution im Ausland übernommen,15 die – trotz kriegsbedingter Schließung – bis 1921 von dem Breslauer Zoologen und Taxonomen Thilo Krumbach (1874–1949) geleitet wurde. Im Januar 1913 eröffnete die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft dank einer Schenkung der jüdischen Kunstmäzenin Henriette Hertz (1846–1913) ihr erstes geisteswissenschaftliches Institut im legendären Palazzo Zuccari in Rom: die Bibliotheca Hertziana, eine kunsthistorische Forschungsbibliothek, deren Schwerpunkte auf der Erforschung der italienischen und römischen Kunst der Nachantike und insbesondere der Renaissance und des Barock lagen.16 Dies geschah zu einem Zeitpunkt, an dem die Kunstgeschichte als Disziplin noch in den Kinderschuhen steckte. Hertz hatte 1897 in Florenz die Bekanntschaft des jungen Kunsthistorikers Ernst Steinmann (1866–1934) gemacht, der sie zur Gründung eines kunsthistorischen Forschungsinstituts nach Vorbild des im gleichen Jahr von einem Kreis interessierter Kunsthistoriker um Aby Warburg (1866–1929) gegründeten Kunsthistorischen Instituts in Florenz17 veranlasst hatte, das einen aufgeklärten und kosmopolitischen Ansatz verfolgen sollte. Erster Direktor des Instituts wurde durch eine testamentarische Verfügung der Stifterin, die ebenso die räumliche Bindung an den Palast und Rom verfügt hatte, Steinmann selbst.

Im Oktober 1913 folgte mit der Eröffnung des KWI für experimentelle Therapie das erste biologische Institut in Dahlem. Institutsdirektor wurde August von Wassermann (1866–1925), der sich bereits 1906 mit der von ihm entwickelten Serodiagnostik der Syphilis weltweit einen Namen gemacht hatte (Wassermannsche Reaktion). Das KWI für Biologie konnte – vor allem aufgrund konzeptioneller Diskussionen und Personalfragen – erst im April 1915 seine Arbeit unter Carl Correns (1864–1933) aufnehmen; offiziell eröffnet wurde es sogar erst im April 1916.18 Das KWI für Arbeitsphysiologie unter Max Rubner (1854–1932) nahm im April 1913 seine Arbeit in Kellerräumen des Physiologischen Instituts der Berliner Universität auf.

Als erstes Institut außerhalb Berlins wurde 1914 Franz Fischers (1877–1947) KWI für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr gegründet. Es war auf Initiative der rheinisch-westfälischen Montanindustrie entstanden und war das erste KWI mit anwendungsorientierter Aufgabenstellung.19 Die Pläne für ein KWI für Physik sowie für ein KWI für Geschichte waren kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs zunächst zurückgestellt worden. Doch bereits 1917 nahmen in Berlin das KWI für Physik unter Albert Einstein sowie das KWI für Deutsche Geschichte unter Paul Fridolin Kehr (1860–1944)20 die Arbeit auf, allerdings ohne entsprechende Institutsbauten und weitere Ausstattung.21 Im selben Jahr wurde ein vor allem von der rheinischen Hüttenindustrie unterstütztes KWI für Eisenforschung in Düsseldorf gegründet und nahm im April 1918 unter Fritz Wüst (1860–1938) seine Arbeit in Räumen der TH Aachen auf.22 Zudem wurde 1917 die 1891 gegründete Hydrobiologische Anstalt unter August Thienemann (1882–1960) in die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft übernommen. Trotz des naturwissenschaftlichen Schwerpunkts der Neugründungen waren, wie bereits ausgeführt, von Anfang an auch die Geisteswissenschaften vertreten, für die Harnack in seiner Denkschrift ebenfalls eine „angemessene Berücksichtigung“ eingefordert hatte.23

1.3.1 Administration und Finanzen

Die Institutsleitung setzte sich aus den Direktoren, dem Kuratorium und dem wissenschaftlichem Beirat zusammen. An der Spitze der Gesellschaft stand der Präsident und ihm zur Seite ein Generalsekretär. Der Senat, der Verwaltungsausschuss, die Haupt- bzw. Mitgliederversammlung bildeten die Organe der Gesellschaft. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war die Präsidententätigkeit ehrenamtlich. Der Sitz der Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft befand sich zunächst in der Königlichen Bibliothek24 und von 1922 bis 1945 im Berliner Schloss.

Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurde man aufgrund einer – natürlich möglichst hohen – finanziellen Zuwendung, die im Allgemeinen einen Aufnahme- und zumindest einen jährlichen Mitgliedsbeitrag umfasste: die Aufnahmegebühr betrug mindestens 20.000 Mark (was heute etwa 100.000 Euro entspricht), der Jahresbeitrag 1.000 Mark.25 Bis zum Ersten Weltkrieg zählte die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft etwa zweihundert, in den 1920er Jahren dann an die tausend Mitglieder. Die jährliche Mitgliederhauptversammlung bildete das höchste Beschluss fassende Gremium. Zu den 79 Gründungsmitgliedern, die sich im Januar 1911 zur Gründungsversammlung eingefunden hatten, gehörten solch illustre Persönlichkeiten wie der Berliner Unternehmer und Kunstmäzen Eduard Arnhold (1849–1925), der 1913 als erster und einziger Jude von Kaiser Wilhelm II. in das Preußische Herrenhaus berufen wurde, der Generaldirektor der Farbwerke Hoechst, Gustav von Brüning (1864–1913), der Privatbankier und kaiserliche Schatullenverwalter Ludwig Delbrück (1860–1913), der bis zu seinem Tod Zweiter Vizepräsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war, der Industrielle Guido Graf Henckel Fürst von Donnersmarck (1830–1916), der Begründer der klassischen Organischen Chemie und Nobelpreisträger Emil Fischer (1852–1919), der Diplomat und Aufsichtsratsvorsitzende der Friedrich Krupp AG, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach (1870–1950), die Wirtschaftsfunktionäre und Bankiers der „Hausbank“ der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Franz (1865–1935) und Robert (1857–1917) von Mendelssohn, der Unternehmer August Oetker (1862–1918), der Unternehmer und Förderer der Berliner Museen, James Simon (1851–1932) und der visionäre Kaufmann Georg Wertheim (1857–1939).

Abb. 1.2: Hilde Levi (1909–2003) im Mikrolabor des KWI für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem, wo sie 1932–1934 als Doktorandin arbeitete. Im Januar 1934 promovierte sie bei Peter Pringsheim (1881–1963) an der Berliner Universität mit der am KWI von Hans Beutler (1896–1942) betreuten Dissertation „Über die Spektren von Alkalihalgon-Dämpfe[n]“.

Abb. 1.2: Hilde Levi (1909–2003) im Mikrolabor des KWI für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem, wo sie 1932–1934 als Doktorandin arbeitete. Im Januar 1934 promovierte sie bei Peter Pringsheim (1881–1963) an der Berliner Universität mit der am KWI von Hans Beutler (1896–1942) betreuten Dissertation „Über die Spektren von Alkalihalgon-Dämpfe[n]“.

Selbst aus dieser Gruppe schwerreicher Mäzene ragte das finanzielle Engagement des Bankiers Leopold Koppel (1854–1933) beim Aufbau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft heraus. Als einer der reichsten Männer Preußens war Koppel bereits 1905 als Wissenschaftsförderer aktiv geworden, und hatte anlässlich der Silberhochzeit Wilhelms II. die „Koppel-Stiftung zur Förderung der geistigen Beziehungen Deutschlands zum Ausland“ mit einem Grundkapital von einer Million Mark ins Leben gerufen, die bereits, wie Szöllösi-Janze schreibt, „etliche Strukturen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vorwegnahm.“ Althoff, Vizepräsident der Koppel-Stiftung, finanzierte damit beispielsweise im Wesentlichen den deutsch-amerikanischen Professorenaustausch mit Harvard-Präsident Charles W. Eliot (1834–1926).26 Es war Koppels Idee, im Rahmen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ein eigenes Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie zu gründen, für das er sich bereit erklärte eine Million Mark zu stiften. Eine der Bedingungen, die er daran knüpfte war, dass ihm die Wahl des Direktors vorbehalten bliebe. Es lag auf der Hand, dass er dabei von Anfang an an Fritz Haber dachte, den er bereits 1909 für die Auergesellschaft hatte gewinnen wollen. Darüber hinaus war Koppel Fördermitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und bezahlte das Gehalt für das neue Mitglied der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Albert Einstein.27

Entscheidend für die Leitung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft waren aber Senat, Verwaltungsausschuss/-rat und die zunehmend ihren Einfluss ausbauende Generalverwaltung. Anfangs bestand der Senat aus 20 Mitgliedern, von denen zehn von der Mitgliederversammlung gewählt und zehn vom kaiserlichen Protektor ernannt wurden. In den 1920er Jahren wuchs die Mitgliederzahl auf 44 an, inzwischen bestimmte der preußische Staat die Hälfte der Mitglieder, außerdem wurden zwei, später drei Institutsdirektoren in dieses Gremium berufen. Der Verwaltungsrat wurde aus Mitgliedern des Senats bestimmt. Für die Verwaltung der einzelnen Institute war ein Kuratorium zuständig, das ebenfalls aus Vertretern von Staat, Finanzwesen und Wissenschaft bestand. Zum Wissenschaftlichen Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurde man aufgrund wissenschaftlicher Leistungen durch den Senat ernannt.28 Institutsdirektoren und Wissenschaftliche Mitglieder waren formal gleichgestellt.

Als Rechtsform war der „eingetragene Verein“ gewählt worden. Man versuchte in den Anfangsjahren, mit einem Minimum an Verwaltungsaufwand auszukommen. Der Verwaltungsausschuss bestand aus dem Präsidenten, zwei Vizepräsidenten, zwei Schriftführern und zwei (ab 1925 drei) Schatzmeistern, und diese Tätigkeiten waren ehrenamtlich. Zunächst war Ernst von Simson (1876–1941) aus dem Reichsjustizamt als Generalsekretär eingesetzt, von 1912 bis 1920 wirkte Ernst von Trendelenburg (1882–1945) aus dem Reichswirtschaftsamt nebenamtlich in dieser Funktion; ihnen standen lediglich ein Bürodirektor und eine Schreibkraft zur Verfügung. Wenn sich die Generalverwaltung in der Anfangszeit auch kaum in Institutsinterna einmischte, so begleitete sie beispielsweise Institutsneugründungen durchaus aktiv und verschaffte sich gegenüber Senat und Verwaltungsausschuss Handlungsspielräume.29 Trendelenburgs Nachfolger wurde 1922 unter dem Titel „Direktor der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft“ Friedrich Glum (1891–1974), der gerade in Tübingen seine Dissertation abgeschlossen hatte und ins Preußische Innenministerium eingetreten war.30 In gewisser Weise verkörperte er den Typ eines modernen Wissenschaftsmanagers.31 In nahezu allen Kuratorien der Institute und anderen Aufsichtsgremien der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war er vertreten.32 Der national-konservativ geprägte Glum baute geschickt ein Netzwerk von Beziehungen zu Industrievertretern, Politikern, Militärs und Wissenschaftlern auf und festigte damit sowohl seine eigene Stellung als auch die der Generalverwaltung als einer leistungsfähigen Zentralverwaltung innerhalb der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Dafür bezog er dann im Jahre 1930 ein Gehalt, das knapp zehn Prozent über dem des Reichskanzlers lag.33 Bis 1927 gab es 29 Institute – das machte eine Umstrukturierung und Aufstockung der Generalverwaltung notwendig. Glum erhielt den Titel eines Generaldirektors und ihm wurden zwei Geschäftsführer unterstellt; weitere Mitarbeiter kamen hinzu.

Nachdem der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mit dem Untergang der Monarchie der kaiserliche Schirmherr abhanden gekommen war, trugen Satzungsänderungen – weniger von den mehrheitlich konservativen Mitgliedern der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft betrieben als vom Reichs- sowie Preußischen Staatsministerium – Ende 1921 der neuen politischen Situation Rechnung; der Name wurde jedoch beibehalten. Sowohl wuchs durch die neue Satzung die Einflussmöglichkeit des Staates als auch der Wissenschaftler.34 Das neue Mitgliederabzeichen, auf dem das Konterfei des Kaisers durch die Minerva – dem ursprünglichen Signet der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft – ersetzt wurde, wurde jedoch erst im Dezember 1926 eingeführt. Max Planck wandte sich allerdings noch 1931 gegen die Umwandlung des Namens Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in einen politisch neutraleren mit dem Argument, dass dadurch „ein Element der Beunruhigung durch eine politische Frage” in die Gesellschaft käme.35 Planck stand mit dieser Haltung gewiss nicht allein da. Vielmehr waren die meisten Mitglieder nach wie vor Anhänger der Monarchie, von denen sich nur wenige – darunter auch Harnack – zu einem „Vernunftrepublikanismus“ durchringen konnten.36 Jährlich berichtete Harnack dem Kaiser ins Exil über die Entwicklung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und sandte auch Glückwunschschreiben zu dessen Geburtstag, während man sich mit der Einladung der neuen Staatsoberhäupter als mögliche Protektoren wesentlich schwerer tat.37 Zudem verbarg sich hinter der vermeintlich unpolitischen Fassade bei den meisten Wissenschaftlern eine durchaus politische, „deutschnationale“ Einstellung.

Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft glich eher einem Dachverband unterschiedlich strukturierter Institute als einem straff geleiteten Großunternehmen. Das war nicht zuletzt den unterschiedlichen Finanzierungsverhältnissen der einzelnen Institute geschuldet, wie auch der weitgehenden Eigenverantwortung, die man den Direktoren zugestand. Ab 1929 gab es auf Anregung Habers zudem einen Wissenschaftlichen Rat der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, dem alle Wissenschaftlichen Mitglieder angehörten. Er umfasste eine biologisch-medizinische, eine chemisch-physikalisch-technische und eine geisteswissenschaftliche Sektion – eine Einteilung, die bis heute gilt.38

Von Anfang an stellte die Finanzierung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ein Problem dar. Zwar sollte sie außerhalb traditioneller Bahnen erfolgen – das heißt vornehmlich auf privatem Wege durch Mäzene wie den Bankier Leopold Koppel und den Industriellen Gustav Krupp von Bohlen und Halbach –, aber der preußische Staat wollte sich keineswegs den gesamten Einfluss aus der Hand nehmen lassen, und dies nicht nur aus Prestigegründen.39 Es kam jedoch zu keiner einheitlichen Regelung. Bereits die ersten Institute folgten unterschiedlichen Finanzierungsmodellen. Dabei zeigte sich, dass aus verschiedenen Gründen in einem verklärenden Rückblick der wirkliche Anteil des Staates meist heruntergespielt wurde.40 Denn von Anfang an reichten die von privater Seite aufgebrachten finanziellen Mittel nicht zur Finanzierung der Aufgaben der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft aus. Die zugespitzte Finanzierungslage infolge des Ersten Weltkrieges ging teilweise bereits auf Vorkriegsprobleme zurück. Doch tauchten beispielsweise die vom Staat zur Verfügung gestellten Grundstücke für die Institute in den veröffentlichten Bilanzen kaum auf.41

Die neue politische Situation nach dem Krieg und die zunehmende Inflation bewirkten schließlich, dass auch das Reich einen beachtlichen Zuschuss gewährte (Preußen und das Deutsche Reich sicherten die Finanzierung des laufenden Betriebes der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft etwa im Verhältnis 50:50). Hinzu kamen unter anderem Mittel aus der neu entstandenen Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft42 und ab Mitte der 1920er Jahre von der Rockefeller-Stiftung. So konnte die Leitung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in einem internen Papier Ende 1923 feststellen, dass „kaum daran gezweifelt werden [könne], dass Reich und Staat auch in Zukunft die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und ihre Institute in ausreichendem Maße unterstützen werden.“43 Und 1930 formulierte Harnack anerkennend: „Die grundlegende Hilfe gewährte der preußische Staat, der mit bedeutenden Mitteln nunmehr die ihres Kapitals beraubte Gesellschaft unterstützte“.44 Daneben bildeten Mitgliederbeiträge, Stiftungen und andere „private“ Einnahmen eine wichtige Säule.45 Doch für Investitionen blieb kaum Spielraum und man musste sich verstärkt auch nach Mitteln aus der Industrie umsehen, folglich der mit praktischen Zielen verbundenen Forschung größere Aufmerksamkeit zuwenden. Abschließend kann man festhalten, dass sich Anfang der 1930er Jahre vier Finanzierungsformen und entsprechende Institutstypen herausgebildet hatten: ein Institut wurde im Wesentlichen von interessierten Industriekreisen finanziert, oder es lebte von einer Mischfinanzierung aus öffentlichen und privaten Geldern, oder es wurde vollständig aus öffentlichen Geldern finanziert, oder es gab feste Zuschüsse für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Zusammenwirken mit anderen, beispielsweise auch ausländischen Trägern.46

Die Finanzierungsprobleme der Gesellschaft in den 1920er Jahren veranlassten Präsident und Generaldirektor sowohl dem Preußischen Staat als auch dem Reich gegenüber zu taktieren. Einerseits bemühte man sich, möglichst hohe Zuwendungen vom Staat zu erhalten – andererseits pochte man auf den Status einer privaten Gesellschaft, wenn der Staat, zugunsten einer einheitlichen Kultur- und Wissenschaftspolitik, mehr Einfluss in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft verlangte. Durch gezielte Mitgliederwerbung vor allem unter Politikern und Industriellen war es Glum gelungen, dass die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft bei solchen Verhandlungen mit Personen zu tun hatte, die durch ihre Mitgliedschaft der Gesellschaft verpflichtet waren, oder anders ausgedrückt: die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft verhandelte dann „mit sich selbst“.47

Dessen ungeachtet konnte die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft nach dem Krieg bis zum Höhepunkt der Inflation noch erheblich wachsen. Sechs neue Institute kamen in diesem Zeitraum dazu: die bereits 1915 unter Beteiligung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gegründete Modellversuchsanstalt für Aerodynamik in Göttingen unter Ludwig Prandtl (1875–1953), die 1919 als Aerodynamische Versuchsanstalt von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft übernommen und 1925 in das KWI für Strömungsforschung, verbunden mit der Aerodynamischen Versuchsanstalt, umgewandelt wurde; das 1920 aus einer Abteilung des KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie hervorgegangene KWI für Faserstoffchemie unter Reginald Oliver Herzog (1878–1935) in Berlin-Dahlem;48 das 1921 in Neubabelsberg gegründete und zwei Jahre später in Räumlichkeiten des Staatlichen Materialprüfungsamtes in Dahlem verlegte KWI für Metallforschung unter Wichard von Moellendorff (1881–1937); das 1921 in Dresden von Max Bergmann (1886–1944) gegründete KWI für Lederforschung;49 das 1924 in Berlin gegründete KWI für ausländisches und internationales Privatrecht unter Ernst Rabel (1874–1955)50 sowie die 1917 in München unter Emil Kraepelin (1856–1926) gegründete und 1924 an die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angegliederte Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie, die neu organisiert ab 1926 unter der Leitung von Ernst Rüdin (1874–1952) stand und 1928 ein neues Institutsgebäude bezog.51 Außerdem war die Gesellschaft an diversen Institutsgründungen und -übernahmen beteiligt, wie etwa 1922 der Übernahme des Deutschen Entomologischen Instituts unter Leitung von Walter Horn (1871–1939) in Dahlem, des Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1924 unter der Leitung von Victor Bruns (1884–1943), der Vogelwarte Rossitten 1923 auf der Kurischen Nehrung unter Johannes Thienemann (1863–1938) sowie der Übernahme der 1905 gegründeten Biologischen Station Lunz (Kupelwieser’sche Stiftung) unter Franz Ruttner (1882–1961) 1924 in Kooperation mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

1.3.2 Selbstverständnis

Ein wesentlicher Grundsatz der Forschungsorganisation wurde – und ist bis heute – das Harnack-Prinzip. Mutmaßlich wurde es von Harnack auf der Hauptversammlung 1928 in München so formuliert: „In so hohem Grade ist der Direktor die Hauptperson, daß man auch sagen kann: die Gesellschaft wählt einen Direktor und baut um ihn herum ein Institut.“52 Es bezieht sich auf die zentrale Stellung des herausragenden, außergewöhnlichen Forschers als Institutsdirektor. Glum griff dies rasch als leitendes Strukturprinzip auf,53 und dreißig Jahre später beschwor es Butenandt in seiner Rede zur 50-Jahrfeier der Gesellschaft noch einmal,54 wobei er zugleich unterstrich, dass das Harnack-Prinzip ein nicht leicht zu erreichendes Ideal der Max-Planck-Gesellschaft sei. Auch heute noch spielt dieses Prinzip eine grundlegende Rolle im Selbstverständnis der Gesellschaft. Allerdings handelt es sich dabei wohl eher um einen Komplex von wissenschaftsorganisatorischen Leitvorstellungen. Denn bereits seit den Anfängen der Gesellschaft kam es nicht nur auf die Auswahl der besten Köpfe an, sondern auch darauf, die relevantesten und ergiebigsten Themen zu erkennen, in denen diese Köpfe sich bewähren konnten. Erst in der Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Köpfen und Themen entfaltete das Harnack-Prinzip seine performative Wirkung jenseits des Risikos zu einem wissenschaftlichen Mythos vereinfacht zu werden. Diese Wirkung bestand vor allem darin, neue wissenschaftliche Perspektiven auch in der Forschungsorganisation langfristig wirksam werden zu lassen, und stellte damit ein Gegengewicht zu stärker auf kurzfristige Erfolge angelegten Formen der Forschungsförderung dar. Vor diesem Hintergrund kam es in besonderem Maße darauf an, die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu haben, denn diesen Personen wurde ein hoher Vertrauensvorschuss gewährt. Bereits Glum machte andererseits deutlich, dass das Prinzip „ein Mann – ein Institut“ nicht absolut gelten müsse, sondern dass für ein größeres Institut, das mehrere Teildisziplinen in sich vereinigt, auch mehrere Gruppenleiter vorzusehen seien.55

Zum Selbstverständnis der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zählte ebenso das heute als Subsidiaritätsprinzip bezeichnete Bestreben, Forschungsinstitute auf den neuen Gebieten zu gründen, die abseits der auch an anderen Einrichtungen – vor allem an den Universitäten – verfolgten Hauptströmungen lagen und nur wenig in deren Strukturen passten. So konnten auch komplexe Institutsstrukturen entwickelt werden, mit denen die organisatorischen Möglichkeiten der Hochschulen überfordert gewesen wären. Zudem gehörten in diesen Bereich Gebiete, die wegen eines hohen Ausrüstungsaufwandes nicht an Hochschulen betrieben werden können. In der späteren Entwicklung der Max-Planck-Gesellschaft wurde die Frage, inwieweit die Großforschung zu ihrem genuinen Aufgabenbereich gehöre, immer wieder kontrovers diskutiert – eine Kontroverse, die in engem Zusammenhang mit einem sich zunehmend ausdifferenzierenden Wissenschaftssystem stand, wie es erst in der Bundesrepublik etabliert werden sollte.56 Die Wissenschaftler der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft sollten frei von Lehrverpflichtungen und Hochschulzwängen forschen können. Allerdings sollten sie durch vielfältige personelle sowie auch organisatorische Verflechtungen mit den Hochschulen und anderen Einrichtungen in die Ausbildung und Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses eingebunden sein. Naturgemäß musste das Subsidiaritätsprinzip in einer sich differenzierenden akademischen Landschaft stets neu definiert werden. Bereits in der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft spielte dieses Prinzip auch eine Rolle als Chance für Wissenschaftler/innen, die nicht im Mainstream tätig waren oder für die es an anderen akademischen Institutionen Aufstiegsbarrieren gab, wie etwa jüdische Forscher und Frauen.

Charakteristisch für die Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war ferner die Forschung auf vielversprechenden Grenzgebieten, in denen die fruchtbaren Konflikte zwischen verschiedenen Bereichen der Wissenschaft angesiedelt sind. Das Harnack-Prinzip, die Subsidiarität und die Interdisziplinarität der institutionell geförderten Grundlagenforschung sind bis heute wesentliche forschungspolitische Grundsätze der Max-Planck-Gesellschaft, auch wenn es immer wieder Versuchungen gab und gibt, politischen Wünschen nach einer stärker programm-orientierten Forschung nachzugeben. Allerdings gehört auch die – jedenfalls dem Selbstverständnis nach – ausschließliche Konzentration auf die Grundlagenforschung zu den Charakteristika der Max-Planck-Gesellschaft, die noch nicht in gleichem Maße für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft galten und sich erst im Zusammenhang der Entstehung des hochdifferenzierten und arbeitsteiligen Wissenschaftssystems der Bundesrepublik entwickelten.

Die außerordentliche Langfristigkeit, in der institutionell geförderte Grundlagenforschung wirksam werden kann, wird eindrucksvoll durch die Kontinuität der Katalyseforschung am KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie, dem heutigen Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft, illustriert, vom Nobelpreis des Jahres 1918 für Fritz Haber bis zum Nobelpreis für Gerhard Ertl (*1936) im Jahr 2007.57 Die Gravitationsforschung ist ebenfalls ein Gebiet, in dem die Förderung von Grundlagenforschung abseits des Mainstream durch die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und später die Max-Planck-Gesellschaft langfristig zu herausragenden Ergebnissen geführt hat, von der Formulierung und Ausarbeitung der allgemeinen Relativitätstheorie durch Albert Einstein bis zur führenden Rolle, die die Max-Planck-Gesellschaft heute in der Gravitationswellenforschung spielt. Auch die international führende Rolle, die die Max-Planck-Gesellschaft heute im Bereich der vergleichenden Erforschung des ausländischen öffentlichen und privaten Rechts hat, geht auf Entscheidungen zurück, die bereits in den 1920er Jahren nach dem Subsidiaritätsprinzip getroffen worden sind. So entstand beispielsweise das KWI für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1924 nicht zuletzt aus dem Bestreben, die völkerrechtlichen Folgen des Versailler Vertrages auszuloten. Auch in vieler anderer Hinsicht hatte der Erste Weltkrieg die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft geprägt. Dazu gehört nicht zuletzt auch die Indienstnahme und die Selbst-Indienstnahme von Wissenschaft für den Krieg, für die ebenfalls der Name von Fritz Haber und sein Einsatz für die Giftgasforschung steht.58

1.4 Ausbau in einer Situation des Umbruchs

Der Erste Weltkrieg begann am 28. Juli 1914 mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. Vorausgegangen war die Julikrise, deren Auftakt der „Blankoscheck“ von Wilhelm II. gebildet hatte, in dem er Österreich-Ungarn bei einem Vorgehen gegen Serbien die volle und bedingungslose Unterstützung des Reiches zusicherte.59

Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft hatte sich zu diesem Zeitpunkt gerade einigermaßen konsolidiert. Auch die Mehrheit ihrer Mitarbeiter stimmte in die damalige patriotische Begeisterung ein. Führende Vertreter der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft60 gehörten zu den Unterzeichnern des Aufrufs an die Kulturwelt61 mit dem sich 93 prominente Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller im Oktober 1914 mit dem deutschen Militarismus solidarisierten und Kriegsgräuel leugneten. Das so genannte Manifest der 93 hatte katastrophale Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen der deutschen Wissenschaft, die weit über deren Trübung durch den Krieg hinausgingen (zumal die meisten der unterzeichneten Wissenschaftler auch nach dem Kriege nicht bereit waren, sich davon zu distanzieren). Die von Georg Friedrich Nicolai (1874–1964) kurz darauf verfasste Gegenschrift Aufruf an die Europäer fand hingegen nur die öffentliche Zustimmung von Einstein, Otto Buek (1873–1966) und auch von Wilhelm Foerster (1832–1921), der zuvor allerdings das Manifest mitunterzeichnet hatte.

Abb. 1.3: In der Zwischenwelt von Militär und Wissenschaft: Fritz Haber unter anderem mit seinem Schwager Fritz Meffert sowie Friedrich Kerschbaum (1887–1946), Otto Hahn und James Franck, etwa 1915 (v. li.n.re.).

Abb. 1.3: In der Zwischenwelt von Militär und Wissenschaft: Fritz Haber unter anderem mit seinem Schwager Fritz Meffert sowie Friedrich Kerschbaum (1887–1946), Otto Hahn und James Franck, etwa 1915 (v. li.n.re.).

Der Krieg zeigte unterschiedliche Auswirkungen auf die einzelnen Institute, von denen viele infolge des Kriegs große Teile ihres Personals verloren. Anderen hingegen bot der Krieg Gelegenheit zum weiteren Ausbau. So konnte beispielsweise Habers Institut, das sich auf seine Initiative hin auf die Entwicklung und Produktion von Gaskampfstoffen konzentrierte, expandieren und stand ab 1916 sogar unter militärischer Leitung.62 Die Mitarbeiterzahl war zeitweilig auf nahezu 2.000 angewachsen, zu denen so renommierte Wissenschaftler wie James Franck (1882–1964), Otto Hahn (1879–1968), Gustav Hertz (1887–1975) und Wilhelm Westphal (1882–1978) gehörten.63 Weder der erste Chemiewaffeneinsatz im April 1915 bei Ypern noch die chemische Kriegführung der folgenden Jahre wären ohne die gezielte Forschung in großem Maßstab am KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie möglich gewesen.64

Auch andere Institute waren am Krieg beteiligt. Die chemische Abteilung des KWI für experimentelle Therapie arbeitete beispielsweise an der Entwicklung von Ersatzstoffen für Seife. Am KWI für Kohlenforschung wurde ebenfalls an Rohstoffersatzverfahren gearbeitet, unter anderem an synthetischen Treibstoffen. Am KWI für Arbeitsphysiologie befasste man sich mit Fragen der Kriegsernährung und Ersatzfutterstoffen. Insgesamt fielen die Beiträge der einzelnen Kaiser-Wilhelm-Institute zur Kriegswirtschaft und Rüstung sehr unterschiedlich aus. Das lag zum einen daran, dass die meisten Institute ihre Arbeit überhaupt erst kurz vor Kriegsbeginn aufgenommen hatten, zum anderen, dass kein klares kriegswirtschaftliches Gesamtkonzept bestand. Doch mehrheitlich folgten die einzelnen Institutsleiter bereitwillig der Haber’schen Maxime, „im Frieden der Menschheit und im Kriege dem Vaterlande zu dienen“.65

Nach Kriegsende befürchtete Haber aufgrund seiner führenden Rolle in der Giftgasentwicklung, die einen massiven Verstoß gegen die Haager Landkriegsordnung darstellte, von der Entente auf die Liste der Kriegsverbrecher gesetzt zu werden und ging zunächst in die Schweiz ins Exil. Gleichzeitig erhielt er jedoch 1919 für seine Entwicklung der Ammoniak-Synthese den Nobelpreis des Jahres 1918.66 Um Deutschland zu ermöglichen, die durch den Versailler Vertrag auferlegten Kriegsschulden bezahlen zu können, versuchte Haber nach dem Krieg Gold aus dem Meer zu gewinnen – ein letztlich erfolgloses Unternehmen.67 Diese Beispiele aus der Anfangszeit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft illustrieren einerseits die Bedeutung, die auch das Aufgreifen gesellschaftlicher Herausforderungen für die Themenfindung der Forschung von Anfang an hatte, andererseits aber auch die Ambivalenz eines solchen thematischen Opportunismus. Es ist jedenfalls eine oft übersehene Tradition der KWG gewesen, Institute für "angewandte Grundlagenforschung" zu gründen, die häufig stark industriefinanziert waren.

Die Orientierung an großen technischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Herausforderungen konnte dennoch produktiv sein, denn sie zwang zur Mobilisierung und Bündelung von Forschungsmethoden auch jenseits traditioneller Disziplingrenzen. Die Einbindung der Wissenschaft in kurzfristige Erwartungshorizonte von Wirtschaft und Politik wirkte sich dagegen meist hemmend und auch zerstörerisch auf die Grundlagenforschung aus. So regten während des Kriegs zutage getretene Rohstoffprobleme die Gründung weiterer Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft an. Beispielsweise wurde 1919 Habers Institut eine Textilabteilung angegliedert, aus der 1920 das KWI für Faserstoffchemie unter Reginald Oliver Herzog hervorging. Hier arbeiteten in den ersten Jahren auch Michael Polanyi (1891–1976), der sich mit kolloidchemischen Untersuchungen befasste, und Hermann F. Mark (1895–1992), einer der Begründer der Polymerchemie. Eine wichtige Untersuchungsmethode am Institut war die Röntgenstrukturanalyse. Schon bald jedoch geriet das Institut in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten, weil es nur halbherzig von der in erster Linie an schnell verwertbaren Ergebnissen interessierten Industrie finanziell unterstützt wurde. Die Gründung industrienaher Institute kurz vor und nach Ende des Ersten Weltkriegs erfolgte allerdings keineswegs planmäßig. Diese Institute entsprangen keinem wissenschaftspolitischen Gesamtkonzept, sondern kamen eher zufällig – nicht zuletzt aufgrund finanzieller Angebote – zustande.

Auch außerhalb Berlins beziehungsweise Preußens wurden neue Institute gegründet, um eine stärkere Verankerung im Reich zu erreichen und finanzielle Mittel auch aus anderen Ländern zu erschließen, wie zum Beispiel 1921 das KWI für Lederforschung in Dresden und 1924 das KWI für Strömungsforschung in Göttingen. Eine Stiftung zu Ehren des schlesischen Unternehmers Fritz von Friedländer-Fuld (1858–1917) veranlasste die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1917 in Breslau ein weiteres, stark anwendungsorientiertes Kohlenforschungsinstitut unter der Leitung des Erfinders des künstlichen Kautschuks Fritz Hofmann (1866–1956) zu übernehmen68 – obwohl es bereits das Mülheimer KWI für Kohlenforschung gab.69

Um dennoch eine gewisse Planmäßigkeit in die Institutsgründungen zu legen, unterschied Generalsekretär Glum zwischen zwei Typen von Kaiser-Wilhelm-Instituten: solchen, die mehr der Ergänzung der theoretischen Wissenschaften dienen (im heutigen Sprachgebrauch Grundlagenforschungsinstitute außerhalb der an den Universitäten vertretenen Hauptrichtungen) und jenen, die die Methoden der theoretischen Wissenschaften auf die angewandten Wissenschaften übertragen und damit zugleich indirekt der Wirtschaft dienen sollen. Zu letzteren bemerkte er, dass das Bestreben der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft dahin gehe, „für alle großen Gruppen der Wirtschaft Forschungsinstitute zu besitzen, die sich in erster Linie mit den wissenschaftlichen Grundlagen der entsprechenden Produktionszweige befassen sollen.“ Dazu nannte er als Beispiele die KWI für Kohlenforschung, Eisenforschung, Metallforschung, Faserstoffchemie, Silikatforschung und Lederforschung.70

Etwas anders lagen die Verhältnisse beim KWI für Metallforschung, das 1920 zunächst in Neubabelsberg bei Berlin gegründet und 1923 in Gebäude der Staatlichen Materialprüfungsanstalt in Berlin-Dahlem überführt wurde. Es arbeitete vor allem auf dem Gebiet der Nichteisenmetalle und leistete Pionierarbeit in der zerstörungsfreien Werkstoffprüfung (unter anderem mit Röntgenstrukturuntersuchungen). Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten stand es allerdings Anfang der 1930er Jahre vor der Schließung. Es gelang der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft jedoch, die Unterstützung der Nichteisenmetall-Industrie im süddeutschen Raum zu gewinnen und das KWI in Stuttgart anzusiedeln, wo es 1935 neu eröffnet wurde.71

Dank des ökonomischen Aufschwungs nach Inflation und Überwindung der internationalen Isolation infolge des Ersten Weltkriegs setzte Mitte der 1920er Jahre auch in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft eine neue Entwicklungsphase ein, die mit neuen Institutsgründungen einherging. Dabei wandte sich die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft verstärkt auch der medizinischen Forschung zu. So erhielten die bereits bestehenden Institute für Arbeitsphysiologie, Psychiatrie und Hirnforschung Neubauten, und 1927 wurde in Berlin-Dahlem ein KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik unter Leitung des Mediziners und Rassenhygienikers Eugen Fischer (1874–1967) neu gegründet. Mit der Gründung des KWI für medizinische Forschung im Jahre 1929 in Heidelberg wurde noch weitergehender als bei bisherigen Institutsgründungen interdisziplinäres Neuland beschritten. Unter Leitung des Heidelberger Internisten Ludolf von Krehl (1861–1937) sollten hier medizinische und naturwissenschaftliche Disziplinen eng zusammenarbeiten. Gemäß diesem Anliegen wurden vier Fachrichtungen in selbständigen Teilinstituten gleichberechtigt vereinigt: Chemie unter Richard Kuhn (1910–1967), Physik unter Karl Wilhelm Hausser (1887–1933), Pathologie unter Krehl und Physiologie unter Otto Meyerhof (1884–1951) und außerdem wurde das Heidelberger Universitätsinstitut für Serologie unter Hans Sachs (1877–1945) assoziiert.72

Haussers früher Tod 1933 führte zu einer ersten Umorientierung. Mit seinem Nachfolger Walther Bothe (1891–1957) wurde das Teilinstitut für Physik seitens der KWG-Leitung bewusst auf die noch in den Kinderschuhen steckende Kernphysik ausgerichtet, um dieses zukunftsträchtige neue Forschungsgebiet auch in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu etablieren. Nachdem 1937 auch Krehl gestorben und Meyerhof 1938 ins Exil gezwungen worden war, verschob sich der Arbeitsschwerpunkt des Instituts weiter in Richtung Physik und Chemie. Die Medizin spielte nur noch eine untergeordnete Rolle am Heidelberger Institut, dessen Direktor Kuhn inzwischen geworden war und bleiben sollte. Die Umsetzung des ehrgeizigen Institutsplans war somit zwar an unvorhersehbaren persönlichen und politischen Konstellationen gescheitert, doch gleichzeitig bewährte sich gerade angesichts der Widrigkeiten auch die institutionelle Plastizität und Effizienz der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.

Insgesamt folgten aber die Neugründungen ab Mitte der 1920er Jahre keiner längerfristigen wissenschaftspolitischen Strategie, sondern waren eher von finanzpolitischem Opportunismus geprägt. So ging die Gründung des KWI für Hirnforschung unter der Leitung von Oskar Vogt (1870–1959) auf den dezidierten Wunsch des Hauptgeldgebers Gustav Krupp von Bohlen und Halbach zurück, der Senator und Erster Vizepräsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war.73 Die Gründung des KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik folgte einem wissenschaftlichen Trend, mit dem sich Finanzquellen erschließen ließen. Und das Heidelberger KWI für medizinische Forschung verdankte seine Existenz nicht nur den Interessen der Pharmaindustrie, sondern auch dem dringenden Wunsch des damaligen Reichsfinanzministers Heinrich Köhler (1878–1949), etwas für seine badische Heimat zu tun. Im bayerischen Obernach entstand 1926 unter der Leitung von Oskar von Miller (1855–1934) und Otto Kirschmer (1898–1967) das eher technisch ausgerichtete Institut für Wasserbau und Wasserkraft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Bis 1933 waren 36 Institute und Forschungsstellen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gegründet worden, das heißt ihre Zahl hatte sich seit Kriegsende trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten verdoppelt.

Ungeachtet der fehlenden langfristigen Forschungsplanung – Glum sprach davon, dass sich die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft „den jeweils gegebenen Verhältnissen nach Möglichkeit angepaßt“ habe74 – ist es der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft immer wieder gelungen, strukturelle Erfolge zu erzielen. Diese Erfolge stützten sich oft auf das Urteilsvermögen, die richtige Person zur richtigen Zeit für das richtige Projekt einzusetzen, aber auch auf die Fähigkeit, auf Rückschläge konstruktiv zu reagieren, wenn diese Personen dann nicht unbedingt so „funktionierten“, wie man sich das gedacht hatte. Das begann bereits mit den Überlegungen, Albert Einstein für ein zukünftiges KWI für Physik zu gewinnen, von dem man sich in erster Linie eine zielgerichtete Forschung zur Quantentheorie erhoffte. Einstein legte jedoch den Schwerpunkt seiner Forschung zunächst auf die Erarbeitung der Grundlagen der Allgemeinen Relativitätstheorie, die er 1915 veröffentlichte.

Der Erfolg der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft bei ihren Personalentscheidungen zeigte sich auch in Emil Fischers Bemühungen, Richard Willstätter und Otto Hahn für das KWI für Chemie zu gewinnen. Fischer hatte Hahn an seinem Universitätsinstitut bereits 1907 eine Stelle für die damals unter organischen Chemikern wenig akzeptierte Radioaktivitätsforschung eingeräumt. 1912 sorgte er dafür, dass Hahn mit seiner damaligen Mitarbeiterin Lise Meitner (1878–1968) eine eigenständige Abteilung am KWI für Chemie erhielt. Wie sehr nicht nur die Flexibilität der Gesellschaft per se sondern insbesondere auch die Fertilität und Mutationsfähigkeit der Institute selbst zum Erfolg der institutionellen Forschungsförderung durch die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft beitrug, zeigt die Tatsache, dass sich aus dieser zunächst kleinsten Abteilung des Instituts in den 1920er Jahren die das übrige Institut dominierende Hauptabteilung entwickelte, und dass die zuständigen Abteilungsleiter Hahn und Meitner zu weltweit führenden Forschern auf dem Gebiet der Radioaktivität wurden.75 Fischer hatte auch Willstätter überredet, von Zürich nach Berlin zu wechseln, um über das zukunftsträchtige Gebiet der Pflanzenfarbstoffe zu forschen. Willstätter verließ das KWI für Chemie jedoch bereits drei Jahre später wieder in Richtung München, um dort den Lehrstuhl seines Lehrers zu übernehmen.

Die Weltwirtschaftskrise 1929 brachte auch die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in finanzielle Schwierigkeiten, selbst wenn diese nicht so stark von Kürzungen betroffen war wie andere gesellschaftliche Bereiche.76 Dennoch stieß die seit Mitte der 1920er Jahre verfolgte Wachstumsstrategie erneut an Grenzen. In dieser finanziellen Situation sprang die Rockefeller-Stiftung ein, die unter anderem Otto Warburg (1833–1970) das Geld für den Bau seines KWI für Zellphysiologie in Berlin-Dahlem zur Verfügung stellte, das Ende 1930 eröffnet wurde. Diese Förderung wurde nicht zuletzt auch deshalb möglich, weil das Projekt im Zusammenhang mit Plänen stand, das Spektrum der Forschung auf innovative, interdisziplinäre Bereiche zu erweitern. Auf diese Weise konnte Warburg die Rockefeller-Stiftung davon überzeugen,77 zudem auch den Bau des Instituts für Physik zu fördern, mit dem er eine enge Zusammenarbeit pflegen wollte. Das 1917 gegründete Institut kampierte gewissermaßen zunächst in der Privatwohnung seines Direktors Albert Einstein in Schöneberg.78

Die Einweihung des ersten, genuin von vorneherein interdisziplinär angelegten Instituts der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, des KWI für medizinische Forschung,79 anlässlich der 18. Hauptversammlung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft konnte Harnack nur noch vom Krankenbett verfolgen, er starb am 10. Juni 1930 in Heidelberg. Es hatte bereits einige Zeit Nachfolgediskussionen gegeben, die vor allem von Kultusminister und KWG-Senator Carl Heinrich Becker (1876–1933) angeführt wurden, der sich selbst Hoffnung auf den Präsidentenposten machte. Aus dem Kreis der von Harnack im Oktober 1929 genannten Wunschkandidaten für seine Nachfolge80 entschied man sich am 18. Juli 1930 auf einer Senatssitzung im Rahmen einer außerordentlichen Hauptversammlung für Max Planck, der seit 1916 als KWG-Senator gewirkt und jahrzehntelang auch das Amt eines Beständigen Sekretars der Berliner Akademie der Wissenschaften bekleidet hatte. Planck selbst war jedoch nach einigem Zögern nur bereit, das Amt für eine Übergangszeit bis 1933 wahrzunehmen. Und ungeachtet seiner Verdienste um die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft waren durchaus nicht alle Mitglieder der Meinung, mit ihm eine günstige Wahl getroffen zu haben. Vor allem vermisste man bei Plancks unauffälligem Auftreten die wissenschaftspolitische Umtriebigkeit von Harnack. „Vorläufig haben wir eine unpolitische, wissenschaftliche Leitung“, bemerkte Max Rubner lakonisch.81 Für Glum bot diese Situation die Chance, den Einfluss der Generalverwaltung weiter auszubauen, in seinen Memoiren würde er sich später erinnern, dass seine Tätigkeit nun „über die eines Generalstabschefs hinauswuchs“.82

Die ersten Amtsjahre Plancks standen im Zeichen der Weltwirtschaftskrise. Nach einem Höhepunkt in den öffentlichen Zuschüssen im Haushaltsjahr 1929/30 sanken diese zum Geschäftsjahr 1932/33 um knapp 40 Prozent.83 Insofern konzentrierten sich die Bemühungen von Glum und Planck in dieser Zeit auf den Erhalt der mittlerweile 31 Institute bei minimalen Mittelzuwendungen. Auf der Hauptversammlung 1932 musste Planck feststellen, dass erstmals „die Zahl der im Berichtsjahr ausgeschiedenen Mitglieder die Zahl der neu angemeldeten überschreite.“84 Es wurde sogar über die Schließung von Instituten nachgedacht. Im September 1932 übermittelte Glum dem Reichskanzler eine Denkschrift über die „Notlage“ der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, in der ähnlich wie bereits zu Inflationszeiten argumentiert wurde. Ende November 1932 konnte Glum konstatieren, dass das Reich und Preußen „gewissermaßen eine Bannmeile um die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gezogen“ hätten und weitere Kürzungen nicht mehr zu befürchten seien.85 Doch eine Herausforderung noch größeren Ausmaßes zeichnete sich bereits für die Gesellschaft ab.

1.5 Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus

1.5.1 Die historische Verantwortung der Max-Planck Gesellschaft

1997 setzte der damalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl, mit Zustimmung von Verwaltungsrat und Senat die Präsidentenkommission „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus" bewusst unter dem Vorsitz der beiden nicht zur Max-Planck-Gesellschaft gehörenden Historiker Reinhard Rürup und Wolfgang Schieder ein. Der fünfzigste Jahrestag der Gründung der Max-Planck-Gesellschaft bot den äußeren Anlass, eine unabhängige Kommission mit der Erforschung der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus zu beauftragen. Entscheidend für diesen Entschluss war auch die jahrelang vorausgegangene hitzige öffentliche Debatte über Provenienz und Verbleib anatomischer Präparate aus der Zeit des Nationalsozialismus in westdeutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen, die im Januar 1989 in Demonstrationen vor der deutschen Botschaft in Israel sowie einer Eingabe des israelischen Ministers für religiöse Angelegenheiten an Bundeskanzler Helmut Kohl (*1930) gipfelten. Im Fall der Max-Planck-Gesellschaft war es zunächst die im Edinger Institut für Neuropathologie befindliche Hirnschnittsammlung von Julius Hallervorden (1882–1965), Abteilungsleiter sowohl am KWI als auch MPI für Hirnforschung, die 1984 in den Blickpunkt geriet: Der Historiker Götz Aly vermutete, dass es sich dabei unter anderem um Präparate handelte, die Opfern der „Euthanasie“ entnommen worden waren.86 Etwa zur gleichen Zeit wie Aly beschäftigte sich der Genetiker Benno Müller-Hill mit der Verbindung des KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik nach Auschwitz und kam dabei zu ähnlich belastenden Ergebnissen. Es lag auf der Hand, dass die Max-Planck-Gesellschaft sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen musste. Bereits in seiner Abschiedsrede von 1990 wies der damalige Präsident Heinz A. Staab (1926–2012) auf die Notwendigkeit hin, sich dieser Herausforderung zu stellen. Unter seinem Nachfolger Präsident Heinz F. Zacher wurde eine Arbeitsgruppe gebildet, die eine Erforschung der NS-Vergangenheit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft aus Mitteln der Max-Planck-Gesellschaft, doch unter Federführung externer Historiker vorbereitete.87

Das Forschungsprogramm der Präsidentenkommission „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“ wurde im März 1999 mit einer viertägigen internationalen Konferenz unter dem Titel „Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung" eröffnet. In den folgenden sechs Jahren erforschte ein Team aus unabhängigen Historikerinnen und Historikern so vollständig und vorbehaltlos wie möglich das Verhältnis der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zum NS-System, das wissenschaftliche, politische und wissenschaftspolitische Handeln ihrer Repräsentanten und Wissenschaftler während der Zeit des Nationalsozialismus sowie die Folgen und Auswirkungen dieses Handelns auf die Max-Planck-Gesellschaft. Die aus dieser Forschungsleistung hervorgegangen 18 Monographien und Sammelbände sowie 28 Preprints88 haben neue Standards in der historischen Forschung gesetzt, auf die wir in unseren Ausführungen dankbar zurückgreifen.89

Im Juni 2001 fand im Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft das Berliner Symposium „Biowissenschaftliche Forschung und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten“ statt.90 Im Auditorium befanden sich acht Ehrengäste: Frauen und Männer im Alter von 63 bis 80 Jahren, die als Kinder oder Jugendliche Opfer von Menschenversuchen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern waren. Präsident Markl eröffnete den Dialog mit den Gästen, die die menschenverachtenden biowissenschaftlichen Versuche während des Nationalsozialismus überlebt hatten. Die Historikerkommission hatte zuvor klar belegt, dass auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die Verbrechen des „Dritten Reichs“ aktiv mitverantwortet hatten. Stellvertretend für die Max-Planck-Gesellschaft bekannte sich ihr damaliger Präsident Markl zur historischen Verantwortung für die Verbrechen, die während des „Dritten Reiches“ von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen an Menschen verübt worden waren. In seiner Rede betonte er, dass die „ehrlichste Art der Entschuldigung die Offenlegung der Schuld“ sei und dass dies „für Wissenschaftler [...] vielleicht die angemessenste Art der Entschuldigung sein“ sollte.91 Markl beließ es aber nicht bei dieser wissenschaftlichen Sichtweise, sondern entschuldigte sich auch persönlich bei den Überlebenden der Zwillingsforschung: „Um Verzeihung bitten kann eigentlich nur ein Täter. Dennoch bitte ich Sie, die überlebenden Opfer, von Herzen um Verzeihung für die, die dies, gleich aus welchen Gründen, selbst auszusprechen, versäumt haben.“92 Damit beschritt die Max-Planck-Gesellschaft spät, doch entschieden neue Wege der Vergangenheitspolitik.

1.5.2 Machtwechsel und „Selbstgleichschaltung“: Die Ära Planck

Ich hoffe sehr, dass die bevorstehende Jahresversammlung der K.W.G. Veranlassung geben wird, die persönlichen Beziehungen zu den Ministern des Reiches und der Länder womöglich noch enger zu gestalten als sie es bei den früheren Regierungen waren.93

Auf die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 reagierte die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft unter ihrem Präsidenten Max Planck mit einer weitgehenden „Selbstgleichschaltung“.94 Mit der vorauseilenden Anpassung an die Ziele des NS-Staats meinte man, die Gesellschaft vor einer Übernahme durch fanatische NS-Wissenschaftler – wie etwa die Nobelpreisträger Philipp Lenard (1862–1947) oder Johannes Stark (1874–1957) – bewahren und den Wissenschaftsbetrieb trotz der Vertreibung der jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler funktionsfähig erhalten zu können. Anfangs nahm Planck dem neuen Staat gegenüber eine Haltung ein, in der er zwischen den von ihm abgelehnten Extremen unterschied, die er dem Charakter einer Übergangsperiode zuschrieb,95 und dem grundsätzlich Positiven, das er in dem „langersehnte[n] großartige[n] nationale[n] Umschwung” sah.96 Angesichts der Probleme der Übergangszeit als auch der positiveren Erwartungen, die er für die Zukunft hegte, fand Planck gemeinsam mit Glum und anderen führenden Vertretern der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft schon bald zu einer charakteristischen und aktiven Politik, die die Gesellschaft gegenüber dem neuen Regime dann konsequent verfolgte. Diese Strategie hatte zum Ziel, erstens die Autonomie der Gesellschaft so weit wie möglich zu bewahren, zweitens die Verluste der politischen Umstrukturierung für die deutsche Wissenschaft möglichst gering zu halten, und drittens die Gesellschaft möglichst reibungslos in den Dienst des neuen Staates zu stellen. Obwohl der Staatsanteil am Gesamtetat der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1930 bei 58,6 Prozent, 1933 bei 65,5 Prozent lag und 1937 seinen Höhepunkt mit 88,4 Prozent erreichte,97 war die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft nicht auf die Zuwendungen eines einzelnen staatlichen Geldgebers angewiesen, was ihr erlaubte eigenständiger als etwa staatliche Hochschulen zu agieren und sie vor dem direkten Zugriff des Staats besser schützte.

Abb. 1.4: Albert Einstein bei seinem Vortrag „Über das physikalische Raum- und Ätherproblem“ im Harnack-Haus, 11. Dezember 1929. Einstein war an diesem Abend kurzfristig für den verunglückten Gewerksschaftsvorsitzenden und KWG-Senator Theodor Leipart (1867–1947) eingesprungen.

Abb. 1.4: Albert Einstein bei seinem Vortrag „Über das physikalische Raum- und Ätherproblem“ im Harnack-Haus, 11. Dezember 1929. Einstein war an diesem Abend kurzfristig für den verunglückten Gewerksschaftsvorsitzenden und KWG-Senator Theodor Leipart (1867–1947) eingesprungen.

Das am 7. April 1933 erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das die Entfernung jüdischer und politisch missliebiger Beamter zum Ziel hatte, wurde innerhalb der Gesellschaft zügig und rückhaltlos umgesetzt. Im Herbst 1933 legte die Generalverwaltung dem Reichsministerium des Inneren eine „Nachweisung aller Angestellten [...] über ihre arische oder nichtarische Abstammung“ vor.98 Demnach waren von den 1.061 Mitarbeitern 54 „nichtarisch“.99 Insgesamt betraf dies jedoch überhaupt nur 18 Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, weder im Harnack-Haus noch in der Generalverwaltung waren beispielsweise „Nichtarier“ angestellt. Am KWI für physikalische Chemie war ein Viertel der Mitarbeiter betroffen, darunter Direktor Fritz Haber und mehrere Abteilungsleiter: Fritz Epstein (1898–1979), Hartmut Kallmann (1896–1978), Herbert Freundlich (1880–1941) und Michael Polanyi (1891–1976). Auch am KWI für Chemie war mit Lise Meitner (1878–1968) die Leitungsebene betroffen.100 Planck brachte vor allem der Rücktritt Habers in einen inneren Zwiespalt zwischen seinem Wunsch, die Forschungszukunft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft abzusichern – und insbesondere die Einsetzung eines staatlichen Kommissars abzuwenden –, und seiner Sorge vor einer „Selbstverstümmelung“ durch den Verlust der jüdischen Spitzenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. Laut eigener Darstellung benutzte er seinen Antrittsbesuch als KWG-Präsident beim „Führer“ am 16. Mai 1933 deshalb dazu, um bei Hitler „ein Wort zu Gunsten meines jüdischen Kollegen Fritz Haber einzulegen“,101 wobei er nicht davor zurückschreckte, zwischen „für die Menschheit wertvolle[n] und wertlose[n]“ Juden zu unterscheiden.102 In ihrer Quellenkritik haben Herbert Mehrtens (1992) angeregt und Helmuth Albrecht (1993) nachgewiesen, dass die Zeit für einen Perspektivwechsel auf diese mythisch-heroisierte Begegnung gekommen und die Authentizität der im Planck-Bericht wörtlich wiedergegebenen Zitate mit Skepsis zu betrachten sei.103 Neben seinem Anliegen, Hitler auf die verheerenden Folgen seiner rassistischen Entlassungspolitik für die deutsche Wissenschaft hinzuweisen, ging es Planck darum, diesen „über die augenblickliche Lage und die weiteren Pläne der Gesellschaft“104 zu informieren und die institutionelle Autonomie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu sichern – selbst wenn dies bedeutete, die Entlassungen der jüdischen Kolleginnen und Kollegen hinzunehmen. Auf Hahns Vorschlag, öffentlich gegen die NS-Entlassungspolitik zu protestieren, antwortete er: „Wenn heute 30 Professoren aufstehen und sich gegen das Vorgehen der Regierung einsetzen, dann kommen morgen 150 Professoren, die sich mit Hitler solidarisch erklären, weil sie die Stellen haben wollen.“105 Haber hatte sein Rücktrittsgesuch als Direktor bereits am 30. April 1933 eingereicht.106 Im November desselben Jahres übernahm der Göttinger Kampfstoffexperte Gerhart Jander (1892–1961, Mitglied der NSDAP seit 1925) die kommissarische Leitung des KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie. Haber starb am 29. Januar 1934 im Exil in Basel. Planck organisierte am 29. Januar 1935 als Ausdruck sowohl seiner persönlichen als auch der „Treue“107 der Gesellschaft eine Gedenkfeier für Haber im Harnack-Haus. Obwohl das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung die Feier als politischen Affront betrachtete und allen Beamten die Teilnahme daran verbot,108 fand diese in der von Planck und Glum geplanten Weise statt. Die Gedächtnisreden hielten unter anderem Max Planck und Otto Hahn.109

Albert Einstein hingegen, Direktor des – bis dahin immer noch mehr oder weniger auf dem Papier bestehenden – KWI für Physik, hatte schon früh vor der nationalsozialistischen Gefahr gewarnt. Die Wintermonate 1932/33 hatte er wie bereits in den Jahren zuvor am California Institute of Technology in Pasadena verbracht, jedoch geplant, im April nach Berlin zurückzukehren. Doch vier Wochen nach Hitlers Amtsantritt am 30. Januar 1933 schrieb er an Margarete Lebach (1885–1938): „Im Hinblick auf Hitler wage ich es nicht, deutschen Boden zu betreten“.110 Am Vorabend seiner Abreise aus Pasadena erklärte er am 10. März in einem Interview, dass er nicht nach Deutschland zurückkehren werde:

Solange mir eine Möglichkeit offensteht, werde ich mich nur in einem Lande aufhalten, in dem politische Freiheit, Toleranz und Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz herrschen. [...] Diese Bedingungen sind gegenwärtig in Deutschland nicht erfüllt. Es werden dort diejenigen verfolgt, die sich um die Pflege internationaler Beziehungen besonders verdient gemacht haben, darunter einige der führenden Künstler.111

Bei seiner Rückkehr nach Europa verzichtete er am 28. März in der deutschen Botschaft in Brüssel auf die deutsche Staatsbürgerschaft und erklärte auch am gleichen Tag seinen Austritt aus der Akademie der Wissenschaften. Am 1. April erklärte der Beständige Sekretar der Akademie, Ernst Heymann, gegenüber der Presse, aufgrund von Einsteins Beteiligung an der „Greuelhetze“ in Amerika und Frankreich habe die Akademie „keinen Anlaß den Austritt“ zu bedauern.112 Max von Laues (1879–1960) Versuch, die Mitglieder der Akademie am 6. April zu einer Distanzierung von dieser Erklärung zu veranlassen, scheiterte – selbst Fritz Haber „billigte nachträglich“ Heymanns Formulierung und schloss sich dem „Dank für sein sachgemäßes Handeln“ an.113 Auf der Plenarsitzung am 11. Mai schloss Planck seine Würdigung der herausragenden wissenschaftlichen Leistungen Einsteins mit dem Bedauern darüber, dass dieser „selber durch sein politisches Verhalten sein Verbleiben in der Akademie unmöglich gemacht“ habe.114 Das Ausscheiden aus der Akademie bedeutete offenbar auch die Trennung von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft,115 auch wenn Einstein von Laue erst im Juni 1933 darum bat zu veranlassen, dass er in allen deutschen Wissenschaftsgesellschaften und -organisationen als Mitglied gestrichen würde. Sein Urteil über die deutsche Wissenschaftslandschaft fällt unmissverständlich aus:

Akademien haben in erster Linie die Aufgabe, das wissenschaftliche Leben eines Landes zu fördern und zu schützen. Die deutschen gelehrten Gesellschaften haben aber – so viel mir bekannt ist – es schweigend hingenommen, dass ein nicht unerheblicher Teil der deutschen Gelehrten und Studenten sowie aufgrund einer akademischen Ausbildung Berufstätigen ihrer Arbeitsmöglichkeit und ihres Lebensunterhaltes in Deutschland beraubt wird. Einer Gesellschaft, die – wenn auch unter äusserem Druck – eine solche Haltung annimmt, möchte ich nicht angehören.116

Im Zuge der „Selbstgleichschaltung“ wurde auch der KWG-Senat auf seiner Jahresversammlung im Mai 1933 neu gebildet: Mit Ausnahme von Franz von Mendelssohn, Paul Schottländer (1870–1938) und Alfred Merton (1878–1954) war die Generalverwaltung bereit, „die übrigen Nicht-Arier ohne weiteres fallen zulassen“, wie Staatssekretär Hans Pfundtner (1881–1945) Reichsinnenminister Wilhelm Frick (1877–1946) am 12. Mai 1933 mitteilte.117 Auch die jüdischen Hauptsponsoren der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft aus Gründungstagen, wie etwa Leopold Koppel, und Fördernde Mitglieder, wie Max M. Warburg (1867–1946) und Fritz Mannheimer (1890–1939), fielen dieser „Säuberung“ des Senats zum Opfer.118

1.5.3 Im Zeichen des Erfolgs: Die Netzwerke von Glum und Telschow

Wie die folgenden Abschnitte zeigen werden, ist die Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im NS-Staat die eines bemerkenswerten wissenschaftspolitischen Erfolges und weniger – wie häufig und insbesondere gerne von Zeitzeugen kolportiert – die eines Kampfes um das institutionelle Überleben.119 Diese Darstellung folgte der Logik, dass aufgrund des anti-intellektuellen Charakters des Hitlerregimes die NS-Zeit eine Phase des wissenschaftlichen Verfalls gewesen sei. Doch das lässt den Tatbestand außer acht, dass sich Kriege nur mit Technik und Wissenschaft auf dem Stand der Zeit gewinnen lassen. Der Erfolg der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft fand insbesondere in der Vermehrung ihrer Institute und finanziellen Zuwendungen seinen Ausdruck. Er ist maßgeblich der Generalverwaltung, und allen voran ihren beiden Spitzenfunktionären Friedrich Glum und Ernst Telschow (1889–1988) zu verdanken. Insbesondere Telschow sollte sich als Meister des Networking – dem Knüpfen und Pflegen von Kontakten, die dem beruflichen Fortkommen dienen – erweisen, der die Gesellschaft mit Geschick unter dem Motto „Vernetzung um jeden Preis“ (Hachtmann) um die entscheidenden Klippen des 20. Jahrhunderts herumsteuerte.120

Überlegungen der neuen Regierung in den Jahren 1933/34, die Gesellschaft aufzulösen und die einzelnen Institute anderen interessierten Einrichtungen zu übergeben, hingen unter anderem damit zusammen, dass die Kompetenzen der Länder im Reich zusammengeführt werden sollten und die Verantwortung für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vom Reichsinnenministerium auf das von Bernhard Rust (1883–1945; seit 1922 NSDAP-Mitglied) geleitete Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung übertragen wurde. Rust, seit 1922 NSDAP-Mitglied, strebte eine Neuorientierung der Forschungspolitik an, die allerdings nicht zum Tragen kam. Für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war innerhalb des Rust’schen Ministeriums vor allem Rudolf Mentzel (1900–1987; seit 1925 NSDAP-Mitglied) zuständig. Mentzel, ein Schüler Janders, war ausgebildeter Chemiker, der auch zu Giftgasen gearbeitet hatte, und seit 1933 am KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie tätig. Von der engen Verbindung zwischen Mentzel und Telschow wird an späterer Stelle noch die Rede sein.

In den Jahren 1937 bis 1945 bescherte Telschow der Generalverwaltung weitaus größere Erfolge als Glum in den fünfzehn Jahren seiner Amtszeit. Was waren die Gründe dafür? Immerhin hatte Glum die „Selbstgleichschaltung“ der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vorangetrieben und war ein Bewunderer des Faschismus.121 Allerdings hatte er sich zugleich öffentlich zum Gegner einer „Parteidiktatur“ erklärt122 und auch sein finanzpolitischer Kurs lag nicht auf der Linie der neuen Machthaber. Die rechtskonservativen Netzwerke großbürgerlicher Honoratioren, die Glum in seinen elitären Herrenclubs gepflegt hatte, verloren nach 1933 schnell an Bedeutung, weil sie kaum Schaltstellen zum NS-Regime boten. Nach 1933 spielten sich Entscheidungsprozesse immer weniger formal ab, eine Entwicklung, die Telschow rechtzeitig erkannt hatte. Glum hingegen geriet als Mann von gestern ins wissenschaftspolitische Aus und musste 1937 seinen Abschied nehmen.

Anders als Glum war Telschow kein intellektueller Vertreter des Großbürgertums. Nach seiner Promotion 1912 bei Otto Hahn führte er bis zu seinem Eintritt in die Generalverwaltung 1931 sehr erfolgreich die Konditorei seines Vaters. Am 1. Mai 1933 trat er in die NSDAP ein und wurde im gleichen Jahr Zweiter Geschäftsführer der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Telschows Entscheidung im Jahr 1936, das Amt des Forschungskoordinators des „Rohstoff- und Devisenstabes“ (des späteren Reichsamts für Wirtschaftsausbau) zu übernehmen, stellte die Weichen dafür, dass er zum entscheidenden Wissenschaftspolitiker der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft unter den Präsidentschaften von Carl Bosch (1874–1940) und Albert Vögler (1877–1945) wurde. Weitere Ämter und Funktionen, wie etwa die des Reichsverteidigungsreferenten und Mobilmachungsbeauftragten für sämtliche Kaiser-Wilhelm-Institute, kamen hinzu. Er vermochte es bestens, Kontakte zu den nationalsozialistischen Größen zu knüpfen und an den neuen Treffpunkten der Eliten, wie im im 1907 gegründeten „Aero-Club von Deutschland“, wo sich ein Großteil der Politprominenz traf, oder in der stärker wissenschaftlich orientierten Lilienthal-Gesellschaft, intensiv zu pflegen. Mit dieser Politik gelang es dem Generalsekretär, die personellen und finanziellen Ressourcen selbst während des Krieges nicht nur zu sichern, sondern sogar zu erweitern: Die bereitwillige Teilhabe der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft am NS-System zahlte sich buchstäblich für sie aus.

1.5.4 Kriegsrelevante Forschung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft
im Nationalsozialismus

Mit der NS-Aufrüstungspolitik erlebten Agrar- und Rüstungsforschung in Deutschland nach dem Machtwechsel 1933 einen erheblichen Aufschwung. Die bis dato 29 Institute und Forschungsstellen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wuchsen in den folgenden Jahren auf 42 an, unter anderem nahmen 1937 das KWI für Biophysik in Frankfurt am Main unter Boris Rajewskjy (1893–1974), 1938 das neu erbaute KWI für Physik unter Peter Debye (1884–1966)123, die Forschungsstelle für die Physik der Stratosphäre in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Friedrichshafen unter Erich Regener (1881–1955),124 das KWI für Bastfaserforschung in Sorau unter Ernst Schilling (1889–1963),125 1939 das KWI für Tierzuchtforschung in Rostock unter Gustav Frölich (1879–1940) und 1943 im österreichischen Tuttenhof das KWI für Kulturpflanzenforschung unter Hans Stubbe (1902–1989) die Arbeit auf.

Die Bewertung der kriegsrelevanten Forschung in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, dieser „Interessenskoalition zwischen Wissenschaft und Macht“126, stellt eine besondere Herausforderung für die Wissenschaftsgeschichte dar und war ein inhaltlicher Schwerpunkt der Präsidentenkommission zur „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“. Dabei konnte es nicht um das bloße Abarbeiten eines Institutionenrasters gehen,127 vielmehr standen Aspekte wie „Gemeinschaftsforschung“ und Forschungsorganisation, Ressourcenaustausch und Wissenstransfer zwischen Wissenschaft, Militär und Industrie im Vordergrund.128 Auf der Grundlage der Forschungen dieser Kommission verfügen wir heute über ein detailliertes Bild, das das ganze Ausmaß zeigt, in welchem die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, ihre Präsidenten Planck, Bosch, Vögler, ihre Generalverwaltung, ihre Institute sowie ihre „Multifunktionäre“, also Direktoren und Wissenschaftler/innen, an kriegsrelevanter Forschung beteiligt waren.

Vierjahresplan, Autarkiepolitik und Ostexpansion

Im September 1936 wurde Hermann Göring (1893–1946) als Reichsluftfahrtminister und Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe beauftragt, den so genannten Vierjahresplan für wirtschaftliche Autarkie umzusetzen, das heißt, die kriegswirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, deren zentrales Ziel in der Förderung einheimischer Rohstoffe und der Produktion von Ersatzstoffen zur Entlastung der schlechten Devisenlage bestand. Göring hatte sich bereits im Herbst 1935 mit Bosch und Vögler darüber beraten, „durch welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen das Rüstungsthema beschleunigt“ werden könnte.129 Bemerkenswert ist hierbei auch die Rolle, die der ehemalige KWG-Generalsekretär Ernst von Trendelenburg im 1936 von Göring gegründeten „Gutachter-Ausschuß für Exportfragen“ spielte, dessen Mitglieder um den „hohen Stellenwert der Wissenschaft für die Aufrüstung wußten“.130 Schlüsselfigur der Vierjahresplanbehörde und engster Berater Görings war jedoch ihr Leiter, der Chemiker Carl Krauch (1887–1968).131

Krauchs Vierjahresplanlaufbahn begann 1936 als Leiter der Abteilung Forschung und Entwicklung im Amt für Deutsche Roh- und Werkstoffe. Anfang 1938 wurde das Amt in die Reichsstelle für Wirtschaftsausbau umbenannt und zuständig für die Herstellung und Entwicklung beispielsweise von synthetischem Kautschuk und chemischen Kampfstoffen. Auf Anordnung von Göring ging im Dezember 1939 daraus das Reichsamt für Wirtschaftsausbau (RWA) hervor, das Exekutivorgan der Vierjahresplanbehörde, an dessen Spitze Krauch stand. Dieser plante mit dem Amt „eine einzige Stelle, nach Art des englischen Verteidigungsministeriums“ zu schaffen, die „alle Fragen der Forschung, der Planung der Finanzierung und vertraglichen Regelung und der Überwachung der Ausführung entscheidet“, wie er 1938 seine Ziele seinem Kollegen Otto Ambros (1901–1990) diktierte.132 Unter der Leitung von Krauch, den Göring zum Generalbevollmächtigten für Sonderfragen der Chemischen Erzeugung ernannt hatte, lag nahe, dass der Vierjahresplan insbesondere in der Chemie zu einer Zunahme der anwendungsorientierten Forschung führte. Von 1936 bis 1938 fungierte Telschow als Leiter der Abteilung Forschungs- und Erprobungsfragen beim Rohstoff- und Devisenstab, und danach bis 1941 als Forschungskoordinator des RWA.

Die nationalsozialistische Autarkiepolitik verfolgte als eines ihrer Hauptziele, Deutschland unabhängig von Nahrungsmittelimporten aus Übersee zu machen, ein Ziel das auch aus der Weltwirtschaftskrise resultierte.133 Neben der Kriegsfähigkeit stellte die Autarkie der deutschen Wirtschaft den anderen zentralen Programmpunkt des Vierjahresplanes dar. Die Nahrungsmittelsicherheit für Deutschland sollte u.a. mit Hilfe der Züchtungsforschung im Kontext militärischer Ostexpansion geschaffen werden. Die noch in den Anfängen steckende Genetik sollte dazu beitragen, „Obst, Gemüse und Getreide sowie Faserpflanzen widerstandsfähiger gegen Pflanzenkrankheiten, Frost und Dürre zu machen“134– und Deutschland mit dieser Produktivitätssteigerung der Pflanzenzüchtung unabhängig von Importen.

Die deutsche Autarkieforschung nutzte die Eugenik, um auch Pflanzen und Tiere „vor Degeneration zu schützen“, wobei es sich jedoch um kein NS-Spezifikum handelte, denn auch die USA und die Sowjetunion griffen in ihrem Streben nach Autarkie auf die Rassenhygiene zurück. Die Wissenschaftler/innen begriffen den Krieg als Möglichkeit, ihre Forschung weiterzuentwickeln, da dieser ihnen mit der Ostexpansion die Möglichkeit bot, Zugriff auf Gebiete oder auch osteuropäische Forschungsstationen, und damit beispielsweise botanisches Material, zu erlangen, die ihnen lange nicht zugänglich gewesen waren. Wilhelm Eitel (1891–1979), der bereits im Mai 1933 die Zentralisierung der Wissenschaften unter dem Primat der Rüstungspolitik gefordert hatte,135 beabsichtigte 1940, sein Kaiser-Wilhelm-Institut für Silikatforschung zu einer Art Reichsinstitut der Silikatforschung zu entwickeln, das nach Prag – oder in andere eroberte Ostgebiete – verlagert werden sollte.136 Und noch 1944 verlegte das KWI für Züchtungsforschung seine Pflanzenkautschukforschung ins Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz.137

Rüstungsforschung

Bereits Planck hatte erkannt, dass eine Intensivierung der militärischen Forschung der Reputation der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft unter dem neuen Regime förderlich sein konnte und so unterbreitete die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft dem Reichswehrministerium Ende 1933 den Vorschlag zur Gründung eines gemeinsamen Ausschusses für Fragen der Landesverteidigung. Generell wurde von den meisten Wissenschaftlern die Zusammenarbeit mit militärischen Dienststellen nicht nur als selbstverständlicher Dienst am Vaterland betrachtet, sondern auch als Möglichkeit, zusätzliche finanzielle Mittel für ihre Forschungen zu erlangen. Auch die Institution Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurde auf dieses Ziel hin ausgerichtet. Dabei konnte sie auf frühere Erfahrungen zurückgreifen, angefangen bei Habers Giftgasforschung im Kaiserreich bis hin zur Zusammenarbeit des Reichswehrministeriums in der Weimarer Republik mit den Instituten für Kohlenforschung in Mülheim und Breslau sowie mit dem KWI für Silikatforschung, eine Zusammenarbeit, die im Hinblick auf den Versailler Vertrag illegal war.138 Grundsätzlich unterschieden sich die Forscher der KWG in ihrem Bestreben, an rüstungsrelevanten und kriegsvorbereitenden Projekten mitzuwirken, nicht von den Wissenschaftlern anderer Länder. Die Anbiederung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft an den NS-Staat ging jedoch weit über die für jede Wissenschaftsgesellschaft notwendige Absicherung der ihr von den sie tragenden gesellschaftlichen und staatlichen Akteuren gewährten Handlungsspielräume hinaus, da sie auf Selbstverständlichkeiten wie den Glauben an eine notwendige Stärkung Deutschlands auch um den Preis gewaltsamen Vorgehens gegen Andersdenkende, Minderheiten und europäische Nachbarn, sowie um den Preis der Aufgabe ohnehin ungeliebter demokratischer Institutionen zurückgreifen konnte – „Selbstverständlichkeiten“, die viele ihrer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei allen Vorbehalten gegen „Exzesse“ mit den neuen Machthabern teilten. Diese Anbiederung führte jedenfalls dazu, dass die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ab Mitte der 1930er Jahre über zusätzliche finanzielle Mittel aus dem Reichsluftfahrtministerium sowie aus dem Reichsernährungsministerium verfügen konnte. Verschiedene Institute, wie etwa das KWI für Eisenforschung, das KWI für Metallforschung und das KWI für physikalische Chemie, wurden direkt in den Vierjahresplan und damit in die Förderung der beschleunigten militärischen Aufrüstung einbezogen.

Im Dezember 1938 eröffnete die unerwartete Entdeckung der Urankernspaltung am KWI für Chemie nicht nur die völlig neue Perspektive der nuklearen Energiegewinnung. Sie bereitete auch den Weg für neuartige militärische Technologien mit ungeahnten Konsequenzen. Otto Hahn erhielt 1945 für diesen, mit seinem Assistenten Fritz Straßmann(1902–1980)) auf radiochemischem Wege erzielten wissenschaftlichen Durchbruch den Nobelpreis für Chemie für das Jahr 1944. Lise Meitner, die nach dem „Anschluss“ Österreichs aufgrund ihrer jüdischen Herkunft im Juli 1938 zur Flucht aus Deutschland gezwungen war, hatte – von Hahn in Fortsetzung ihrer jahrelangen Teamarbeit ins Vertrauen gezogen und um Rat gebeten –Anfang 1939 aus dem Stockholmer Exil mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch (1904–1979) die physikalische Erklärung für diesen Vorgang geliefert, ohne jedoch dafür vom Nobelkomitee angemessen gewürdigt zu werden.139

Bereits kurz nach Kriegsbeginn wurde mit Unterstützung aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ein Uranprojekt ins Leben gerufen, um die technischen und militärischen Anwendungen dieser Entdeckung auszuloten und umzusetzen. Das KWI für Physik, das Physikinstitut im KWI für medizinische Forschung und das KWI für Chemie waren daran beteiligt. Abweichend von oft anders lautenden Nachkriegsdarstellungen – in denen gerne die „reine Luft der wissenschaftlichen Forschung“140 besungen wurde –, widmeten sich die beteiligten Forscher durchaus zielbewusst ihrer Arbeit und nutzten jedenfalls die Chance, auf diesem Wege unter anderem an modernste Ausrüstungen zu gelangen.

Seit Jahrzehnten beschäftigt sich die Geschichtsforschung mit der umstrittenen Rolle von Werner Heisenberg, der ab 1942 Direktor am Berliner KWI für Physik war, und seinem Wirken unter dem NS-Regime sowie seinen Absichten im Hinblick auf die Konstruktion einer deutschen Atombombe.

Nach den Plänen des Heereswaffenamtes sollte das KWI für Physik zum Zentrum der Forschungen des Uranvereins werden, allerdings sollte die Forschung dezentral auf mehrere Institutionen verteilt bleiben. Der Institutsdirektor Debye wurde deshalb aufgefordert, seine niederländische Staatsbürgerschaft aufzugeben und die deutsche anzunehmen, weil er als Ausländer kein Kriegsprojekt leiten konnte. Da er dies ablehnte, wurde ihm verboten, das Institut zu betreten und er zog es daraufhin vor, eine bereits bestehende Einladung in die USA anzunehmen.141

Das KWI für Physik war unter die formelle Leitung des Heereswaffenamtes gestellt worden, als dessen Vertreter der Physiker Kurt Diebner (1905–1964) fungierte, während die eigentliche wissenschaftliche Hauptleitung insbesondere durch Werner Heisenberg von der Universität Leipzig wahrgenommen wurde. Schwerpunktthema des KWI für Physik im Rahmen des Uranprojektes waren zunächst die Reaktortheorie und Modellversuche für einen Reaktor. Neben Heisenberg war vor allem sein Schüler Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007), der seit 1937 am Debye'schen Institut arbeitete, ein wichtiger Mitarbeiter für die theoretische Seite, während Karl Wirtz (1910–1994) – ebenfalls seit 1937 am Institut – sich um die experimentelle Realisierung kümmerte. Anfang 1942 versuchte das Heereswaffenamt Einfluss auf die offizielle Ernennung eines Nachfolgers für Debye zu nehmen, doch KWG-Leitung und Institutsmitarbeiter setzten die Berufung Heisenbergs als Direktor am Institut durch (die Stelle wurde weiterhin für Debye offengehalten). Zum 1. Juli 1942 wurde das KWI für Physik wieder in die Verfügung der KWG zurückgegeben.

In der Diskussion um die Frage, wie weit die Wissenschaftler bereit waren, für Hitler die Atombombe zu bauen, wird immer wieder der Besuch von Heisenberg bei Niels Bohr (1885–1962) im September 1941 in Kopenhagen thematisiert. Gerhard Otto Oexle, ehemaliger Direktor des MPI für Geschichte, fasst diese Auseinandersetzung so zusammen:

Was wollte Werner Heisenberg mit seinem Besuch bei Niels Bohr im September 1941? Ist sein Besuch ein Beweis dafür, daß Heisenberg mit den Nationalsozialisten kollaborierte, daß er die Absicht hatte, Bohr auszubeuten und dessen eventuelles Wissen über ein Atombombenprojekt der Alliierten abzuschöpfen? Oder wollte Heisenberg – ganz im Gegenteil – Hitler Widerstand leisten, indem er über Bohr die Alliierten vor der Möglichkeit einer deutschen Atombombe warnte?“142

Die Nachkriegserinnerungen von Heisenberg und Bohr gehen in diesem Punkt grundlegend auseinander, und auch in Archiven lässt sich keine Antwort finden. Die Frage hat es bis auf die Theaterbühne gebracht und damit wiederum zu interessanten wissenschaftshistorischen Reflexionen geführt, die über diese „Episode“ durchaus hinausgehen.143 Jedenfalls sollte man mit Wirtz klar festhalten, „daß auch deutsche Wissenschaftler von Anfang an keinen Zweifel darüber ließen, daß eine Atombombe das schließliche Ergebnis einer solchen Entwicklung sein könnte.“144

Nach Oexles Auffassung lässt sich diese Kontroverse auf zwei Positionen reduzieren. Die eine Position geht davon aus, dass Heisenberg in voller Absicht das deutsche Projekt einer Atombombe sabotiert habe, um Hitler dieses Instrument der Kriegsführung nicht in die Hand zu geben. Sie wird prominent vertreten in dem 1993 erschienenen Buch Heisenberg’s War des US-Journalisten und Pulitzer Preisgewinners Thomas Powers.145 In seinem Buch über Heisenberg und das Atombombenprojekt der Nazis von 1998 legt der Historiker Paul Lawrence Rose die entgegengesetzte These dar: Heisenberg sei ein entschiedener Sympathisant der Nationalsozialisten gewesen, der die Absicht gehabt habe, die Bombe zu bauen, sei dazu aber mangels Sachverstand nicht in der Lage gewesen und habe dann nach 1945 „mit erstaunlichen Fähigkeiten zu Selbstbetrug und Schönfärberei“ ein „Netz von Täuschung und Selbsttäuschung“ gesponnen.146

Als Katalysator für diese jahrzehntelange kontroverse Debatte betrachtet Oexle die provokative Äußerung, die Carl Friedrich von Weizsäcker hinsichtlich des Abwurfs der Atombombe auf Hiroshima am 6. August 1945 in Farm Hall machte:

Die Geschichte wird festhalten, daß die Amerikaner und die Engländer eine Bombe bauten und daß zur selben Zeit die Deutschen unter dem Hitler-Regime eine funktionsfähige Maschine [sc. einen Reaktor] herstellten. Mit anderen Worten, die friedliche Entwicklung der Uranmaschine fand in Deutschland unter dem Hitler-Regime statt, während die Amerikaner und die Engländer diese gräßliche Kriegswaffe entwickelten.147

Oexle verweist schließlich auf den Wissenschaftshistoriker David C. Cassidy, der die Debatten über Heisenbergs Besuch bei Bohr in Kopenhagen für peripher hält und stattdessen rät, „umfassendere historische Fragen“ zu diskutieren, wie beispielsweise: „Warum blieb Heisenberg während der nationalsozialistischen Periode in Deutschland? Warum entschied er sich dafür, an der Kernspaltung zu arbeiten, und übernahm die wissenschaftliche Leitung des deutschen Projekts zur Freisetzung nuklearer Energie? Und warum gelang es den deutschen Wissenschaftlern nicht, einen Reaktor zu bauen, obwohl sie bei der Kernforschung einen Vorsprung besaßen?“148 Mark Walker macht darüber hinaus deutlich, dass die Geschichte des deutschen „Uranprojekts“ weit über Heisenberg hinausgehe, auf den sich die Historiker/innen weitgehend konzentriert hätten. Dieser sei zwar ein bedeutender Wissenschaftler, aber „kein zweiter Robert Oppenheimer“ gewesen. Cathryn Carson hat demgegenüber angeregt,149 dass es vielmehr notwendig sei, sich mit Heisenbergs Nachkriegsäußerungen und der darin zutage tretenden „Kontinuität der Ambivalenz“ in Bezug auf Kernwaffen und Kernreaktoren – während des Krieges und in der Zeit danach – auseinanderzusetzen.150

Ein Beispiel für die frühe Remilitarisierung der Forschung, die im Zuge der nationalsozialistischen Aufrüstung forciert wurde, stellt das Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie dar. Anders als in der historischen Forschungsliteratur lange angenommen, beschränkten sich das Preußische Kultusministerium und das Reichswehrministerium in ihrem Vorgehen gegen das Haber’sche Institut nicht auf die Entlassung der jüdischen Mitarbeiter/innen. Wie Margit Szöllösi-Janze und Florian Schmaltz dargelegt haben,151 nutzten diese Ministerien vielmehr die antisemitische Entlassungspolitik gleichzeitig dazu, das KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie wieder in den Dienst der militärchemischen Forschung zu stellen.152 Seit Mai 1935 wurde Peter Adolf Thiessen regulärer Direktor des Instituts.153 Unter seiner Leitung konzentrierte sich die Arbeit am Institut unter anderem auf die Chemiewaffenforschung, insbesondere auf die Kampfstoffforschung und Probleme des Gasschutzes. Denselben Forschungsschwerpunkt verfolgte man seit 1938 am Chemieinstitut des KWI für medizinische Forschung, das unter der Leitung von Richard Kuhn stand.154 Als Fachspartenleiter für anorganische Chemie (seit 1937) beziehungsweise für organische Chemie (seit 1939) kontrollierten Thiessen und Kuhn auf diesem Gebiet fast die gesamte Forschungsförderung des Reichsforschungsrats, der 1937 ausdrücklich zur Förderung militärisch relevanter Forschung gegründet worden war. Beide KWG-Direktoren besaßen eine erhebliche Machtposition, nicht zuletzt dadurch, dass sie autonom in der Mittelvergabe ihres Etats waren. Insgesamt sechs Kaiser-Wilhelm-Institute, und zwar neben den beiden zuvor erwähnten auch das KWI für Arbeitsphysiologie in Dortmund, die genetische Abteilung des KWI für Hirnforschung in Buch, das KWI für Lederforschung, und das KWI für Strömungsforschung in Göttingen, betrieben Gasschutz- und Kampfstoffforschung.

1939 erhielt Kuhn den Chemie-Nobelpreis von 1938 für seine Forschung über Carotinoide und Vitamine. Nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an den Journalisten und Regimegegner Carl von Ossietzky (1889–1938) hatte Hitler „Reichsdeutschen“ jedoch 1937 verboten, den Nobelpreis anzunehmen.155 Dies betraf Kuhn ebenso wie zwei weitere deutsche Preisträger des Jahres 1939, Gerhard Domagk (1895–1964), der bei der Bayer AG über Sulfonamide für die Chemotherapie forschte und den Medizinnobelpreis verliehen bekam, und Adolf Butenandt (1903–1995), Direktor des KWI für Biochemie, dem der Chemie-Nobelpreis für seine Arbeiten über Sexualhormone zugesprochen wurde. Bemühungen, eine Ausnahmeregelung zu erwirken, scheiterten. Domagk, der sich trotz des Annahmeverbots für den Nobelpreis schriftlich bedankte, wurde daraufhin von der Gestapo festgenommen und eine Woche lang inhaftiert. Butenandt und Kuhn beugten sich dem ministeriellen Druck und erklärten gegenüber Stockholm, sie würden nicht gegen Hitlers Erlass verstoßen und die Preise ablehnen. Domagk wurde die Nobelpreis-Medaille 1947 überreicht, Butenandt und Kuhn erst zwei Jahre später.156

Butenandt, der später Präsident der Max-Planck-Gesellschaft werden sollte, ist seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend in die öffentliche Kritik geraten aufgrund der Unklarheit, die hinsichtlich seiner möglichen Beteiligung an den Menschenversuchen herrschte, die der SS-Arzt Josef Mengele (1911–1979) in Auschwitz durchgeführt hat. Butenandt war 1936 in die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gekommen und hatte Carl Neubergs Direktorenposten am KWI für Biochemie übernommen.157 Im gleichen Jahr war er auch in die NSDAP eingetreten. Butenandts Freund, Kollege und Nachbar Otmar von Verschuer (1896–1969), seit 1942 Direktor am KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik,158 hatte 1943 ein Projekt zur Untersuchung „Spezifischer Eiweißkörper“ aufgenommen. Dafür bezog er Blutproben von seinem Assistenten und ehemaligem Doktoranden Josef Mengele aus dem KZ Auschwitz. Anfang der 1980er Jahre stellte der Molekularbiologe Benno Müller-Hill die Frage, ob und inwieweit Butenandt an diesen Experimenten beteiligt gewesen sei oder zumindest davon gewusst habe.159 Ein Hinweis auf einen engen Zusammenhang zwischen Butenandt und Verschuer ergab sich aus der Tatsache, dass Butenandt 1949 zusammen mit Max Hartmann, Wolfgang Heubner und Boris Rajewsky federführend einen 13-seitigen „Persilschein“ für Verschuer verfasst hatte – die berüchtigte „Verschuer-Denkschrift“. Konfrontiert mit dieser Tatsache empfand der damalige MPG-Präsident diese Denkschrift allerdings keineswegs als kompromittierend, sondern stellte sie im Gegenteil Müller-Hill in Kopie bereitwillig zur Verfügung. Dass Müller-Hill jedoch nach Lektüre der „Denkschrift“ – die sich unter anderem dahin verstieg zu behaupten, dass Verschuer zu keinem Zeitpunkt von Mengele über das Geschehen in Auschwitz unterrichtet gewesen sei, beziehungsweise ja nicht einmal sicher sei, ob denn Mengele selbst darüber orientiert gewesen sei160 – zu anderen Schlüssen kam, überraschte Butenandt „in hohem Maße“.161 Dass er daraufhin zu Müller-Hills Vorwürfen nicht öffentlich Stellung nahm, sondern diesem stattdessen untersagen ließ, das gemeinsam geführte Gespräch zu veröffentlichen, trug naturgemäß nicht zu seiner Entlastung bei.162

Auch bei Thiessen und Kuhn stellt sich die Frage nach Mitverantwortung für und Mitwissen über Medizinverbrechen im Zusammenhang mit der Chemiewaffenforschung im NS-Staat.163 In den überlieferten Quellen finden sich allerdings keine Hinweise auf eine direkte Beteiligung der beiden an Menschenversuchen in Konzentrationslagern. Doch steht außer Frage, dass Thiessen als Fachspartenleiter Verantwortung für die Rekrutierung wissenschaftlich qualifizierter Häftlinge aus den Konzentrationslagern Plaszów und Flossenbürg trug. Über diesen Häftlingseinsatz für die deutsche Kampfstoffforschung war er durch seinen Mitarbeiter Erich Pietsch (1902–1979), Leiter des Gmelin-Instituts,164 nicht nur fortlaufend informiert, sondern billigte diesen auch. Inwieweit Thiessen auch über die tödlichen Menschenversuche im KZ Dachau informiert war, lässt sich anhand der Quellen nicht belegen.

Richard Kuhn wiederum förderte als Fachspartenleiter des Reichsforschungsrats zwei Forschungsprojekte, bei denen schwere Gesundheitsschäden und der Tod der unfreiwillig als Versuchspersonen benutzten Häftlinge des Konzentrationslagers Natzweiler/Struthof im Rahmen der wissenschaftlichen Versuchsreihen einkalkuliert war. So stellte Kuhn aus der von ihm geleiteten Fachsparte für organische Chemie bis Mai 1944 Fördermittel für die Fleckfieber- und Hepatitisversuche des an der „Reichsuniversität Straßburg“ lehrenden Eugen Haagen (1898–1972) bereit, um die Wirksamkeit von Gegenmitteln an Häftlingen in Impfversuchen zu erproben. Des Weiteren bewilligte Kuhn zusammen mit dem Generalbevollmächtigten für das Gesundheits- und Sanitätswesen Karl Brandt (1904–1948) Fördermittel der Fachsparte für organische Chemie für Versuche mit dem Giftgas Phosgen, die der ebenfalls an der „Reichsuniversität Straßburg“ lehrende Arzt Otto Bickenbach (1901–1971) durchführte. Dieser erprobte die Phosgenwirkung zuerst im Tier- und Selbstversuch und danach an KZ-Häftlingen. An den Folgen der in der Gaskammer des Konzentrationslagers Natzweiler durchgeführten Phosgenversuche Bickenbachs starben mindestens vier Häftlinge auf grausame Weise.165 Was Kuhn vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs über die von Haagen und Bickenbach in Natzweiler durchgeführten Menschenversuche wusste, lässt sich anhand der nur lückenhaft überlieferten Quellen nicht mehr eindeutig feststellen. Nach dem Kriegsende versuchte Kuhn die Phosgenversuche noch im Nachhinein zu rechtfertigen, obwohl Bickenbach zu diesem Zeitpunkt bereits von einem französischen Militärgericht wegen der Häftlinge, die infolge der Phosgenversuche gestorben waren, unter Anklage stand. Dem Rechtsanwalt Bickenbachs teilte Kuhn mit, er habe keine Zweifel daran, dass die Phosgenversuche „hervorragend gründlich“ durchgeführt worden seien und deren „Erkenntnisse vielen zum Segen gereichen“ würden.166 Vermutlich im Kontext seiner Forschung über Nervengase erkundigte sich Kuhn 1943 bei Telschow nach Möglichkeiten, Zugriff auf „Gehirne jüngerer gesunder Menschen“167 zu erhalten – ohne erkennbare Scheu, dass es sich dabei womöglich um die Organe von Opfern der NS-Justiz handelte.

Als prominente Wissenschaftsorganisatoren hatten Thiessen und Kuhn regelmäßig direkt oder indirekt mit NS-Funktionsträgern zu tun, die an den Verbrechen des NS-Staats beteiligt waren – was die eingangs gestellte Frage nach Mitverantwortung und Mitwissen beantwortet. Der Vorstand der Gesellschaft Deutscher Chemiker beschloss jedenfalls 2005, die 1968 von der BASF AG Ludwigshafen gestiftete Richard-Kuhn-Medaille nicht mehr zu verleihen, und zog damit die Konsequenz aus Erkenntnissen der wissenschaftshistorischen Forschung im Hinblick auf Richard Kuhns Verhalten während des Nationalsozialismus.168

Internationale Beziehungen: Die Rockefeller-Stiftung

Trotz Selbstgleichschaltung, Vertreibung der jüdischen Wissenschaftler/innen und zunehmender Rüstungsforschung blieben bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs die internationalen Kontakte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, insbesondere zur anglo-amerikanischen scientific community, noch erstaunlich ungestört. Dies belegen die Annalen des Harnack-Hauses, die weiterhin einen regen Strom ausländischer Besucher verzeichneten.169 Bis Mitte der 1930er Jahre stiegen die Zahlen von Gastwissenschaftlern und Besuchern aus Westeuropa (mit Ausnahme Frankreichs) und den USA. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft probte weiterhin den Spagat zwischen „Staatstreue und internationaler Anschlussfähigkeit“.170 Neben wissenschaftlicher Anerkennung ging es dabei auch um finanzielle Unterstützung, und die Rockefeller-Stiftung war der wichtigste ausländische Geldgeber der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Deren beachtliche Zuwendungen, wie etwa für Warburgs Institut für Zellphysiologie, erfolgten mit für heutige Verhältnisse erstaunlich geringen inhaltlichen Auflagen. Ein Vertrauensvorschuss, der auf das hohe Ansehen zurückzuführen ist, das deutsche Wissenschaftler/innen in den USA genossen.

Doch Plancks Befürchtungen, dass sich die Entlassungen auf die Beziehungen zur Rockefeller-Stiftung auswirken könnten, sollten sich zumindest zum Teil bewahrheiteten. Die Stiftungsvertreter waren unsicher in Bezug auf die Vorgänge 1933 in Deutschland und reagierten sehr unterschiedlich darauf. Um sich ein Bild der wissenschaftspolitischen Ziele der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft machen zu können, waren sie auf die Informationen der Wissenschaftsfunktionäre angewiesen. Während manche, wie unter anderem von Oskar Vogt – dessen KWI für Hirnforschung massiv von der Entlassungspolitik betroffen war – angeregt und erhofft, für einen radikalen Rückzug der Rockefeller-Stiftung aus Deutschland plädierten, sprach Stiftungspräsident Max Mason (1877–1961) im Juli 1933 nach einem Besuch in Deutschland und Gesprächen mit Politikern dort herablassend von den „weepy tales of persecuted Jews“, die zu stark die Wahrnehmung der Mitarbeiter der Rockefeller-Stiftung im Pariser Büro beeinflusst hätten.171 Offenbar in Unkenntnis darüber, dass die Vergabepraxis der Rockefeller-Stiftung vorsah, die Stipendien an Personen und nicht an die Institutionen zu binden, versuchten manche KWG-Direktoren, wie etwa Ernst Rüdin (1874–1952), Abteilungsleiter in der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, den Stiftungsmitarbeitern etwas vorzugaukeln.172 Glum hingegen versuchte die NS-Rassenpolitik und ihre Umsetzung in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mit den rassistischen Vorurteilen zu vergleichen, die in den USA gegen die schwarze Bevölkerung herrschten, und verärgerte damit die Vertreter der Rockefeller-Stiftung sehr, die entsprechende Vorfälle in ihrer Heimat einräumten, diese jedoch als beschämend empfanden und keineswegs verteidigen wollten.173

Dennoch zog sich die Rockefeller-Stiftung nur allmählich aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Deutschland zurück, noch 1935 finanzierte sie den Bau des KWI für Physik mit 1,5 Mio. Reichsmark.174 Dafür und für die damit einhergehende implizite Billigung der Wissenschaftspolitik der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft geriet die Stiftung in den USA zunehmend in die Kritik.175

1.5.5 Industriekapitäne: Bosch und Vögler

Carl Bosch, Gallionsfigur der deutschen Chemieindustrie

1936 feierte die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ihr 25-jähriges Bestehen, und Max Planck hatte das von ihm ausbedungene Ende seiner zweiten Amtszeit erreicht. Nachdem die Institution Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gesichert zu sein schien, hatte sich der inzwischen 78-jährige Planck weitgehend aus dem Alltagsgeschäft zurückgezogen und überließ auch das wissenschaftspolitische Parkett lieber anderen, selbst wenn solche NSDAP-Größen wie Goebbels und Göring riefen.176 Die Suche nach einem geeigneten Nachfolger stellte einen Balanceakt zwischen den kontrastierenden politischen und meritokratischen Interessen dar und gestaltete sich entsprechend schwierig. Dennoch stand bald fest, dass eigentlich nur Carl Bosch (1874–1940) dafür in Frage käme. Die entsprechenden Verhandlungen mit dem Ministerium führte vor allem Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der bereits bei der Durchsetzung von Plancks Präsidentschaft eine wichtige Rolle gespielt hatte. Das Reichserziehungsministerium erklärte sich im Dezember 1936 unter der Voraussetzung, dass das „Führerprinzip“ in eine novellierte Satzung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft aufgenommen würde, bereit, Bosch als Präsidenten zu akzeptieren.177 Aus einer weiteren damit einhergehenden Satzungsänderung resultierte vordergründig auch die vom Reichserziehungsministerium geforderte Absetzung Glums.178

Bosch, der 1931 zusammen mit Friedrich Bergius (1884–1949) den Nobelpreis für seine „Verdienste um die Entdeckung und Entwicklung der chemischen Hochdruckverfahren“ erhalten hatte, verfügte über exzellente wissenschaftliche Meriten. Er war seit 1917 der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft als Mitglied des Verwaltungsrates des KWI für Chemie verbunden, wurde 1933 Senator und 1935 Nachfolger des verstorbenen Carl Duisberg als Dritter Schatzmeister. 1909 hatte er zusammen mit Fritz Haber das Haber-Bosch-Verfahren zur Ammoniak-Gewinnung entwickelt. Angemeldet wurde das Patent 1910 von der BASF, deren Vorstandsvorsitzender er ab 1919 war. 1925 trug er maßgeblich zur Gründung der I.G. Farbenindustrie A.G. (IG Farben) bei und übernahm zunächst den Vorstandsvorsitz und ab 1935 den Aufsichtsratsvorsitz. Als erster „Industriepräsident“ wurde er am 29. Mai 1937 gewählt. In Bezug auf Boschs politisches Selbstverständnis spricht Hachtmann von dem Phänomen einer „mentalen Gemengelage“: trotz einer "vornehmlich habituell geprägten Distanz" strebte Bosch in bestimmten Bereichen dieselben Ziele an, die auch das NS-Regime verfolgte.179 In der Tat hatte er in den Anfängen des Regimes zu einem strategischen Brückenschlag im Sinne des Konzerninteresses beigetragen.

Aus Sorge um die künftige wirtschaftspolitische Absicherung der Treibstoffsynthese im Falle eines Regierungswechsels ließ Bosch im Sommer 1932 die Position der NSDAP in dieser Frage durch Heinrich Bütefisch, Pressechef der IG Farben und Hydrierexperte der Leuna-Werke, bei einem Treffen mit Hitler sondieren. Hitler sicherte der IG Farben im Falle seiner Kanzlerschaft großzügige staatliche Unterstützungsleistungen und den Ausbau der Produktion von synthetischem Treibstoff zu, die im Zusammenhang mit der von ihm angestrebten Motorisierung und Aufrüstung stand.180 Als Vorstandsvorsitzender der IG Farben betrachtete Bosch die NS-Autarkiepolitik als Chance, im Konzerninteresse den Ausbau des nicht markfähigen Hydrierverfahren zur synthetischen Treibstoffproduktion auszubauen. Die 1932 begonnenen Verhandlungen zwischen der IG Farben und dem Reichswirtschaftsministerium führten am 14. Dezember 1933 zum Abschluss eines ersten Benzinvertrags, in dem der Ausbau der Produktionskapazität von Synthesetreibstoff der Leuna-Werke bis zu 350.000 Jahrestonnen durch staatliche Abnahme- und Preisgarantien fixiert wurde.181 Bosch leitete damit eine Annäherung zwischen der Konzernführung der IG Farben und den Nationalsozialisten ein. Ihre Anfang der 1930er Jahre noch vorherrschend ablehnende Haltung gegenüber dem autarkiepolitischen Kurs der Nazis legte die Konzernspitze zunehmend ab und begann selbst, in wachsendem Maß Einfluss auf die Aufrüstungspolitik des Regimes auszuüben.

Den Antisemitismus der NSDAP und die gegen Juden gerichteten Verfolgungsmaßnahmen des NS-Staates lehnte Bosch allerdings vehement ab. In einigen Fällen versuchte er jüdische Wissenschaftler, deren Entlassung drohte, durch persönliche Schreiben zu unterstützen.182 Zugleich begrüßte er im November 1933 in einem Artikel öffentlich die „Erfolge“ der Wirtschaftspolitik Hitlers und die energische Bekämpfung des Kommunismus durch das neue Regime.183

Im ersten Halbjahr seiner Präsidentschaft hatte Bosch die meisten Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft persönlich besichtigt, um sich einen genaueren Überblick zu verschaffen. Allerdings hielt er sich nur wenig in Berlin auf und zog es vor, die Geschicke der Gesellschaft vornehmlich von seinem Büro in Ludwigshafen zu lenken. Die IG Farben war damals der weltgrößte Chemiekonzern, dessen Prestige durch den Vierjahresplan noch enorm gesteigert wurde.184 Bosch hatte Telschow eine Generalvollmacht zur Vertretung der Gesellschaft und ihrer Institute erteilt – eine Art KWG-internes „Ermächtigungsgesetz“185 – und damit die Einflussmöglichkeit der Generalverwaltung weiter gefestigt. Der politische Opportunismus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in der NS-Zeit zahlte sich, wie bereits ausgeführt, durch einen beträchtlichen Zuwachs aus: Die Gesellschaft blieb auch im NS-Staat der größte Verbund außeruniversitärer Forschungseinrichtungen. Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 konnte Telschow dem Präsidenten und seinem Beirat vermelden, dass zwei Drittel aller Kaiser-Wilhelm-Institute als „Bedarfsstellen 1. Ordnung“ anerkannt worden seien und damit ihre Arbeit im Prinzip bei vollem Betrieb fortsetzen könnten.

Wie sehr Telschow im Hintergrund die Fäden zog, tritt besonders deutlich zutage angesichts des aufgrund von Boschs Alkoholismus bald zunehmenden Eklats zwischen dem KWG-Präsidenten und „Stellvertretern des Führers“, wie etwa auf der Tagung der Lilienthal-Gesellschaft für Luftfahrtforschung, deren Präsident Bosch war, am 12. Oktober 1937, oder am 7. Mai 1939 auf der 28. Jahresversammlung des Ausschusses des Deutschen Museums, dessen Vorstandsvorsitzender er war. Es war vor allem die Tatsache, dass Bosch in betrunkenem Zustand bei diesem späteren Treffen in seiner Rede vom Reichskanzler als „der Hitler“ statt als „der Führer“ sprach, die den größten Skandal auslöste und in dessen Folge er als Vorstandsvorsitzender zurücktreten musste. Bosch selbst bot danach an, auch sein Amt als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft niederzulegen, doch offenbar bestand an höherer Stelle kein Wunsch nach Ablösung – zu reibungslos funktionierte die Zusammenarbeit zwischen Mentzel im Reichserziehungsministerium und dem mächtigen Generalsekretär, dem Bosch weitgehend freie Hand ließ.186 Boschs durch Depressionen und Alkoholprobleme bedingter Verfall ließ sich nicht mehr aufhalten: am 26. April 1940 starb er in Heidelberg.

Interregnum Telschow

Zum Zeitpunkt des Todes von Bosch war Telschow nicht nur mit einer Generalvollmacht für die Gesellschaft ausgestattet, sondern hielt auch eine Reihe politischer Schlüsselfunktionen inne, darunter, wie bereits erwähnt, die des Reichsverteidigungsreferenten und die des Mobilmachungsbeauftragten, mit denen es ihm oblag, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft für die Kriegsverhältnisse zu rüsten. Hinzu kam noch die Bestellung zum Abwehrbeauftragten, womit er für die „politisch-ideologische Überwachung“187 quasi der Gesamtbelegschaft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft verantwortlich war. Oder anders ausgedrückt: Es handelte sich dabei um eine institutionalisierte Denunziantenfunktion gegenüber dem NS-Staatsapparat, was dazu führte, dass er in vertrauliche Angelegenheiten des NS-Systems eingebunden wurde. Nicht zuletzt seine hervorragenden Kontakte zu Spitzenfunktionären wie Herbert Backe, Mentzel und Krauch sind Beleg dafür, dass Telschow das „Vertrauen der Partei“188 besaß.

Diese Machtakkumulation erlaubte es Telschow ab April 1940 die Geschäfte der Gesellschaft allein zu führen,189 und dies obwohl kurz vor Bosch auch der Erste Vizepräsident, der badische Kultusminister Otto Wacker (1899–1940) gestorben und der Zweite Vizepräsident Carl Friedrich von Siemens (1872–1941) ebenfalls schwerkrank war. Oder, wie Hachtmann es beschrieb, der „Tanker KWG einige Monate ohne Kapitän und Ersten Offizier“ (ebd.: 833) dahintreiben konnte, zumal die See – um im Bild zu bleiben – zu diesem Zeitpunkt vergleichsweise ruhig zu sein schien. Auf die wachsende Anzahl der Rüstungsforschungsaufträge angesichts der militärischen Erfolge der Wehrmacht im Sommer 1940 reagierte Telschow mit der Gründung der „Forschungsschutz GmbH – Gesellschaft zu Schutz der Urheber- und Erfinderrechte der KWG“. Die steigende Produktivität und daraus resultierende Vielzahl „schutzfähiger Erfindungen“ auf diesem Gebiet bescherte den Instituten beachtliche Einnahmen.190 Trotz dieser finanzpolitischen Strategie ging der Etat der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft nach dem Tod von Bosch von 10,8 Mio. (1940) auf knapp 10,4 Mio. Reichsmark (1941) leicht zurück.191

Doch ungeachtet des reibungslosen Ablaufs der Amtsgeschäfte unter Telschow machten die widerstreitenden Interessen der polykratischen NS-Institutionen sowie nicht zuletzt auch rein formal die Verankerung des „Führerprinzips“ in der Satzung die Ernennung eines neuen Präsidenten unerlässlich.

Albert Vögler, der starke Mann aus dem Revier

Die Kandidaten, die bei der neuerlichen Präsidentensuche zur Diskussion standen, waren Kuhn, Krauch und Vögler. Die Gespräche darüber – von denen das erste bereits unmittelbar im Anschluss an die Beisetzung von Bosch stattfand – führten maßgeblich Telschow, Siemens, Vögler, Mentzel, Krauch und der KWG-Senator Hugo Andres Krüss (1879–1945) aus dem preußischen Kultusministerium. Schon bald kristallisierte sich Vögler als der einzige Kandidat heraus, der den divergierenden wissenschafts- und wirtschaftspolitischen Ansprüchen genügte und versprach, eine uneingeschränkte Förderung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu seinem Anliegen zu machen. Doch Vögler wollte das Präsidentenamt zunächst gar nicht übernehmen, zu sehr war er in seine eigenen wirtschaftspolitischen Unternehmungen eingebunden, insbesondere im Hinblick auf die Vereinigten Stahlwerke, die sein Lebenswerk darstellten.

Eine scheinbar greifbare Übergangslösung, die Vögler als virtuellen Präsidenten und Mentzel als de facto geschäftsführendenden Ersten Vizepräsidenten vorsah,192 wurde hinfällig als der Göring-Intimus Krauch, der sich als Kandidat für das Präsidentenamt nicht hatte durchsetzen können, im Frühjahr 1941 drohte, die Existenz der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Frage zu stellen.193 Dadurch gelang es Siemens schließlich Vögler umzustimmen, der am 31. Juli 1941 auf der Sitzung des Senats zum neuen Präsidenten gewählt wurde.194 Scheinbar überraschend wurde Staatssekretär Herbert Backe (1896–1947) Erster Vizepräsident und Mentzel hingegen nur Zweiter Vizepräsident. Die Berufung Backes, Leiter der Geschäftsgruppe Ernährung in der Vierjahresplanbehörde, ging offenbar auf eine Forderung Görings zurück – immerhin war das Reichsernährungsministerium zusammen mit dem Reichserziehungsministerium der größte Geldgeber der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Hachtmann hält es aber auch für denkbar, dass es sich dabei um eine Intervention Telschows gehandelt haben könnte, zumal Mentzels Stern innerhalb der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft nicht mehr ganz so hell erstrahlte, nachdem er eigenmächtig die Entlassung von Otto Warburg verlangt hatte.195 Die neue Führungsspitze, gestützt natürlich von Telschow, machte die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu einem Bollwerk, das von außen kaum einzunehmen war.196

Der Industriemagnat Vögler war als erster und einziger Präsident der Gesellschaft kein Wissenschaftler, doch seine Verbindungen mit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der er bereits seit 1914 angehörte,197 gingen weit zurück: seit 1920 gehörte er dem Senat an, ab 1924 fungierte er als Dritter und ab 1933 als Zweiter Schatzmeister der Gesellschaft. Als Wirtschaftsführer engagierte er sich vor allem für die Institute, die mit seinen Interessen für die Montanindustrie korrespondierten, das KWI für Eisenforschung, das KWI für Kohlenforschung und das KWI für Metallforschung, in deren jeweiligen Kuratorien er auch saß.198 Als Wissenschaftsmäzen hatte er schon 1920 bei der Gründung der „Helmholtz-Gesellschaft zur Förderung der physikalisch-technischen Forschung“ seiner Sorge darüber Ausdruck verliehen, dass aufgrund der „altwissenschaftlichen“ Übergewichtung durch Harnack und Schmidt-Ott, die „technischen Institute Not leiden würden.“199 Ganz besonders am Herzen lag Vögler das KWI für Arbeitsphysiologie, dessen Vorbereitendem Ausschuss für die Neuorganisation er bereits 1926 angehört hatte. Das Institut wurde auf sein Betreiben 1929 nach Dortmund verlegt – eine bemerkenswerte Entscheidung vor dem Hintergrund, dass die Stadt selbst gar nicht die Möglichkeit bot, das Institut einer Universität anzugliedern.200 Als Präsident führte er die Geschäfte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft überwiegend von Dortmund aus, wo seine kometenhafte Karriere einst bei der Dortmunder Union201 begonnen hatte.

Vöglers Einsatz für Autonomie und gegen staatliche Bevormundung der Forschung können nicht darüber hinwegtäuschen, dass er politisch dem völkischen Lager angehörte. 1919 trat er in die Deutsche Volkspartei ein, bei der es sich um die Nachfolgerin der Nationalliberalen Partei handelte, deren Vorsitzender Friedensnobelpreisträger Gustav Stresemann (1878–1929) war. Für die DVP saß er von 1920 bis 1924 im Reichstag. Nachdem er Anfang der 1930er Jahre Hitler kennengelernt hatte, wurde Vögler ein Unterstützer der NSDAP, in die er zwar nicht eintrat, für deren Fraktion er aber von 1933 bis 1945 im Reichstag saß. In den Apologien der Nachkriegszeit wird Vögler gerne nachgesagt, dass er gegen Kriegsende der konservativen Widerstandsbewegung um Carl Goerdeler (1884–1945) nahe gestanden hätte. Diese Mutmaßungen gehen auf personelle Überschneidungen zwischen dem Goerdeler-Kreis und jenem Kreis um Paul Reusch (1868–1956) zurück, in dem Ende der 1930er Jahre maßgebliche Funktionsträger informell zusammenkamen, darunter Vögler, Siemens, Ferdinand Sauerbruch (1875–1951), Hjalmar Schacht (1877–1970) und vorübergehend auch Carl-Hans Graf von Hardenberg (1891–1951) und Friedrich-Karl von Zitzewitz (1888–1975).202

Eine enge Beziehung verband ihn hingegen mit Albert Speer (1905–1981). In seinen Erinnerungen schrieb Speer es unter anderem der Intervention Vöglers zu, dass Göring ihn nach seiner Ernennung zum Reichsminister für Bewaffnung und Munition als Nachfolger von Fritz Todt (1891–1942) am 9. Februar 1942 nicht an eine Vierjahresplanvereinbarung fesseln konnte, die ihn handlungsunfähig gemacht hätte.203 So gelang es ihm in kurzer Zeit, den Koloss Rüstungsproduktion neu zu organisieren. Als Berater und Freund des neuen Rüstungsministers koordinierte Vögler im Gegenzug die Rüstungsforschung unter optimaler Nutzung der Kapazitäten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und verbrachte auch deswegen ab 1942 mehr Zeit in Berlin.

Hachtmann bezeichnet Vögler als den wohl wichtigsten Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, dem es zu verdanken sei, dass die Gesellschaft die Zeiten „mit einem zunehmend resignierenden Planck sowie einem verunsicherten und schließlich weitgehend handlungsunfähigen Glum [...] unbeschadet überstand“,204 nicht zuletzt auch dadurch, indem er dafür sorgte, dass letzterer durch Telschow ersetzt wurde. Vöglers enormer politischer Einfluss war auch ein Erfolg seines hochentwickelten taktischen Geschicks und rhetorischen Talents. „Herr Vögler wechselte am Tag in grundlegenden Fragen zwei bis dreimal eine Anschauung“ zitiert Hachtmann in seinem Vögler-Porträt den ehemaligen Reichskanzler Heinrich Brüning (1885–1970), doch betont, dass diese „politische Elastizität“ keinesfalls als Opportunismus missverstanden werden dürfte.205 Generalbevollmächtigter für das Rhein-Ruhr-Gebiet und „Schutzpatron der Wissenschaften“ – mit all diesen Facetten personifizierte Vögler wie kein anderer Präsident die von Hans Mommsen (*1930) beschriebene „Verschränkung traditioneller und faschistischer Führungseliten“, hier zwischen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und dem NS-System.206

1.6 Von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Max-Planck-Gesellschaft

1.6.1 Weichenstellungen

Aus den Trümmern der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft entstand die Max-Planck-Gesellschaft. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war weitgehend Teil des NS-Systems geworden, mit dem sie faktisch auch zugrunde ging. Doch ihr Modell einer maßgeblich durch die Wissenschaft selbst bestimmten Schwerpunktsetzung institutioneller Forschungsförderung sowie vor allem ihre einzelnen Institute bestanden fort. Das Modell Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft galt allgemein als Erfolgsmodell, das sich in ihren Instituten manifestierte, nicht zuletzt belegt durch die vergleichsweise hohe Zahl an Nobelpreisen (25 bis 1945), mit denen KWG-Wissenschaftler ausgezeichnet worden waren.207 Die ausschließliche Konzentration auf die Grundlagenforschung hingegen stellte keine fest gefügte Tradition der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft dar. Ihre nunmehr dezidierte Betonung ergab sich zunächst eher aus dem Nachkriegsbestreben, sich von der militärischen Forschung insbesondere der NS-Zeit abzugrenzen und damit zugleich ein Argument für den Erhalt dieser Forschungsgesellschaft zu liefern. Erst durch die Differenzierung des Wissenschaftssystems in der Bundesrepublik wurde die Grundlagenforschung zu einem Proprium der Max-Planck-Gesellschaft, zu deren Selbstverständnis heute der Leitsatz von Max Planck gehört, dass dem Anwenden das Erkennen vorausgehen muss.208

Zum Erbe der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gehörten vor allem die personellen und sachlichen Forschungskapazitäten, die sich nach den Zerstörungen des Krieges erhalten hatten. Viele der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die überlebt hatten, erinnerten sich an die Qualität und Freiheit der Forschung, die ihnen die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in besseren Zeiten ermöglicht hatte und setzten sich auch deshalb für den Erhalt dieser besonderen Form der Forschungsförderung ein. Der Selbstverständlichkeit, mit der viele von ihnen sich in den Dienst eines totalitären Staates, zu dessen Teil die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft geworden war, gestellt hatten, war jedoch der Boden entzogen worden, und neue Selbstverständlichkeiten zunächst noch nicht in Sicht.

Die Kontinuität zwischen Max-Planck-Gesellschaft und Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war jedenfalls keineswegs eine Selbstverständlichkeit, sie ging aus einem Ringen um die Rolle von Wissenschaft in einem tiefgreifend veränderten Kontext hervor, und kam nur mit der Unterstützung der Alliierten, insbesondere der britischen Besatzungsmacht, zustande. Die Kontinuität, die letztlich das Ergebnis dieses Ringens war, bedeutete die „Chance für einen Neubeginn“, genau wie es Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestag der Kapitulation am 8. Mai 1985 formulierte.209 Dort betonte er allerdings auch, es habe keine „Stunde Null“ gegeben. Für die Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Max-Planck-Gesellschaft gilt dies, genau wie in anderen Bereichen der Nachkriegsgeschichte, auch für das Fortwirken belasteter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sowie für die eher halbherzigen und vielfach unterlassenen Bemühungen, vertriebene Forscherinnen und Forscher wieder zurückzugewinnen, und nicht zuletzt für die Verdrängung der Verbrechen, die im Namen der Wissenschaft während des Nationalsozialismus geschehen waren.

Weichen für die spätere Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft waren bereits in den letzten beiden Kriegsjahren gestellt worden. Infolge der Luftangriffe ab 1943 wurden Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vor allem aus Berlin, aber auch aus anderen Ballungsräumen an vermeintlich kriegssichere Standorte verlegt. So wurden das KWI für Physik mit seinem Uranprojekt nach Hechingen und Haigerloch auf der Schwäbischen Alb ausgelagert,210 das KWI für Biochemie sowie das KWI für ausländisches und internationales Privatrecht nach Tübingen und das KWI für Chemie (das im Februar 1944 einen Bombentreffer erhalten hatte) nach Tailfingen in Württemberg, aber auch das KWI für Eisenforschung von Düsseldorf nach Clausthal im Harz, um nur einige Beispiele zu nennen.211 In den letzten Kriegsmonaten ging es bei diesem Auszug nach Südwesten auch darum, im Fall einer deutschen Niederlage nicht im Bereich der sowjetischen Armee zu verbleiben. Diese Institute bildeten nach Kriegsende im Mai 1945 weitgehend die Keimzellen für den Wiederaufbau der Gesellschaft.

Mit der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 übernahmen die Siegermächte durch ihre Oberbefehlshaber die Regierungsgewalt in den vier Besatzungszonen. Mitte 1949 gingen die drei Westzonen in der Bundesrepublik Deutschland auf, während aus der sowjetischen Besatzungszone im Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Republik wurde. Beide Staaten waren jedoch damit noch nicht souverän; das Besatzungsrecht wirkte in unterschiedlicher Ausprägung mindestens bis Mitte der 1950er Jahre weiter.212 Bei der Betrachtung der deutschen Wissenschaftspolitik nach 1945 muss dieser Aspekt ebenso berücksichtigt werden wie die unterschiedlichen wissenschaftspolitischen Interessen der Alliierten, und zwar nicht nur in Bezug auf Differenzen zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion, sondern auch der Westalliierten untereinander. Das beste Beispiel dafür ist die Entnazifizierung, die in den einzelnen Besatzungszonen mit unterschiedlicher Intensität verfolgt wurde und beim Wiederaufbau des Wissenschaftsbetriebs eine wichtige Rolle spielte.213

Abb. 1.5: Telegramm Max Plancks an die Versammlung zur Gründung einer Max-Planck-Gesellschaft für die Britische Zone in Bad Driburg am 11. September 1946: „ ... sende ich Ihnen und allen Anwesenden meine besten Wünsche, zugleich mit aufrichtigem Dank für die Ehrung, die durch die Wahl meines Namens mir zuteil wird. Möge die Max Planck Gesellschaft stets die Tradition der Kaiser Wilhelm Gesellschaft fortsetzen und sich immer bewusst bleiben, daß sie unabhängig von allen Strömungen der Zeit nur der Wahrheit der Wissenschaft dienen soll. Max Planck“.

Abb. 1.5: Telegramm Max Plancks an die Versammlung zur Gründung einer Max-Planck-Gesellschaft für die Britische Zone in Bad Driburg am 11. September 1946: „ ... sende ich Ihnen und allen Anwesenden meine besten Wünsche, zugleich mit aufrichtigem Dank für die Ehrung, die durch die Wahl meines Namens mir zuteil wird. Möge die Max Planck Gesellschaft stets die Tradition der Kaiser Wilhelm Gesellschaft fortsetzen und sich immer bewusst bleiben, daß sie unabhängig von allen Strömungen der Zeit nur der Wahrheit der Wissenschaft dienen soll. Max Planck“.

Die USA wollten die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft als Institution des „Dritten Reichs“ auflösen und ihre Institute zum Teil in die Universitäten überführen.214 Die Briten hingegen waren von Anfang an bereit, eine entmilitarisierte Forschung auch im Rahmen einer erneuerten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu ermöglichen. Die Franzosen unternahmen ebenso wie die anderen Militärregierungen zunächst einmal Schritte, neuartige Produktionsverfahren und Waffensysteme sowie die dazugehörigen deutschen Forschungsteams für sich selbst sicherzustellen.215 Doch mit Beginn des Kalten Kriegs änderte sich dies: War noch im April 1946 im Alliierten Kontrollrat von einer Auflösung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die Rede, so wurde ein entsprechender Beschluss danach nicht mehr aktenkundig. Und mit dem wachsenden Bestreben der Westalliierten, ihre Besatzungszonen wirtschaftlich und politisch als Bollwerk gegen das sowjetische Einflussgebiet aufzubauen, war man zunehmend auch bereit, die (west-)deutsche Wissenschaft wieder zu stärken.

Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der deutschen Nachkriegsforschung spielte das von den Alliierten am 29. April 1946 erlassene Kontrollratsgesetz Nr. 25, das unter anderem festlegte:

Um naturwissenschaftliche Forschung für militärische Zwecke und ihre praktische Anwendung für solche Zwecke zu verhindern, und um sie auf anderen Gebieten, wo sie ein Kriegspotential schaffen könnten, zu überwachen und sie in friedliche Bahnen zu lenken, hat der Kontrollrat das folgende Gesetz beschlossen: [...]

Artikel II. 1. Angewandte naturwissenschaftliche Forschung ist untersagt auf Gebieten, welche a) rein oder wesentlich militärischer Natur sind; [...]

Artikel III. 1. Grundlegende naturwissenschaftliche Forschung, rein oder wesentlich militärischer Natur, ist verboten.216

Das Kontrollratsgesetz bildete den neuen Rahmen, innerhalb dessen sich auch die weitere Entwicklung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und später der Max-Planck-Gesellschaft vollziehen sollte. Die von den Alliierten gesetzten Randbedingungen sorgten von vorneherein für eine größere Distanz zwischen der Wissenschaft und ihrem staatlichen und gesellschaftlichen Umfeld. Daraus entstanden letztlich auch die neuen Selbstverständlichkeiten, unter denen sich das Wirken der Max-Planck-Gesellschaft in der jungen Bundesrepublik vollzog, unter anderem die Bereitschaft zur Zurücknahme der Politik zugunsten der Autonomie von Wissenschaft, sowie das Selbstverständnis von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Max-Planck-Gesellschaft, die eine solche Zurücknahme als ihr gutes Recht ansahen. Alles in allem entwickelte sich aus den Nachkriegskonflikten, auch den Spannungen zwischen den westlichen Besatzungszonen, ein zunächst der Wissenschaft von außen auferlegter, dann aber zunehmend von ihr selbst angenommener und weiterentwickelter Lernprozess, für den dieses Denkmuster prägend wurde.217 Aber wir greifen der Geschichte voraus.

Die Institute befanden sich in verschiedenen Besatzungszonen. Verbindungen zwischen ihnen wie auch eine gemeinsame Entwicklung wurden nicht nur dadurch erschwert, dass Reisen zwischen diesen Zonen nicht ohne weiteres möglich waren, sondern, wie bereits angedeutet, auch durch die unterschiedlich gelagerten Interessen der Besatzungsmächte. Eine Besonderheit stellte der Standort Berlin dar, wo seit Sommer 1945 der Viermächte-Status galt. Demzufolge lagen der ehemalige Standort Berlin-Buch im sowjetischen und der Standort Berlin-Dahlem im amerikanischen Sektor. Dennoch galt unter dem Viermächte-Status auch für Bildung und Wissenschaft noch bis 1948 eine einheitliche Verwaltung durch den Berliner Magistrat. In Berlin-Dahlem wurden bis zum Einzug der Westalliierten alle verbliebenen Einrichtungen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft von sowjetischen Truppen weitgehend demontiert, allen voran das KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie sowie die verbliebenen Einrichtungen des KWI für Physik.218

Trotz der erschwerten Umstände der Nachkriegszeit, versuchten viele Forscher/innen ihre wissenschaftliche Arbeit weiterzuführen, auch wenn dies bedeutete, wieder von vorne anzufangen. Dies war ein Stück gelebter Kontinuität, in der, wie in anderen Zeiten ebenfalls, vielen die Wissenschaft als Chance zur Selbstverwirklichung ebenso wie zum Broterwerb erschien, in der Hoffnung, nach Zusammenbruch und Kapitulation wieder ein Auskommen zu finden. Für einige verband sich damit aber wohl auch das vermeintlich unpolitische Ziel, Deutschland wieder zu hohem Ansehen in der Wissenschaft zu verhelfen. Dazu gehörte es, Fragen nach dem persönlichen Verhalten während der NS-Zeit zu verdrängen. Stattdessen wurde ein geschöntes Bild von der Wissenschaft im „Dritten Reich“ gezeichnet, das darauf hinauslief, dass Forschung reines Erkenntnisstreben gewesen und die Mehrzahl der KWG-Wissenschaftler/innen von der NS-Politik unbefleckt geblieben sei. Auch diese Überzeugung, aus der Bedrängnis und dem Verdrängen der ersten Nachkriegsjahre geboren, sollte für lange Zeit zu den neuen Selbstverständlichkeiten gehören, unter denen sich der Wiederaufbau der Wissenschaft vollzog.

Ein Teil der Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war noch Anfang 1945 auf Telschows Veranlassung inoffiziell nach Göttingen verlagert worden und hatte dort auf dem Gelände der Aerodynamischen Versuchsanstalt Unterschlupf gefunden.219 Nach Vöglers Selbstmord im April fungierte Telschow als geschäftsführender Vorstand mit Generalvollmacht und bemühte sich, den Betrieb der vorhandenen KWG-Institute in den westlichen Besatzungszonen organisatorisch und finanziell aufrecht zu erhalten, oder vielmehr wieder in Gang zu bringen.

Abb. 1.6: Max Planck und seine zweite Frau Margarete „Marga“ von Hoeßlin (1882–1949), 1945.

Abb. 1.6: Max Planck und seine zweite Frau Margarete „Marga“ von Hoeßlin (1882–1949), 1945.

Ungeachtet der vorgenommenen Demontagen und sogenannten Einladungen an deutsche Wissenschaftler, in der Sowjetunion an strategisch wichtigen Problemen zu arbeiten, verfolgte die sowjetische Besatzungsmacht zunächst durchaus die Absicht, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft weiterbestehen und ihre Arbeit in dem von ihr kontrollierten Gebiet – also insbesondere Berlin – wieder aufleben zu lassen. Noch im Mai 1945 wurde Thiessen vom Zehlendorfer Bezirksbürgermeister zum Leiter der gesamten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ernannt, doch an eine Rückkehr der verlagerten Institute nach Berlin war unter den gegebenen Umständen auf absehbare Zeit nicht zu denken. Bereits wenige Wochen später ging Thiessen in die Sowjetunion, wo er sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner bereits angesprochenen Chemiewaffenforschung während des Kriegs, bessere Chancen für sein weiteres Wirken ausrechnete als etwa in den USA.220 Daraufhin setzte der Berliner Magistrat mit Verfügung vom 5. Juli 1945 Robert Havemann (1910–1982), einen früheren Mitarbeiter des KWI für physikalische Chemie und Elektrochemie, als „vorläufigen Leiter“ der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ein.221 Als Widerstandskämpfer – unter anderem im Netzwerk der Roten Kapelle, in dem auch Arvid (1901–1942) und Mildred Harnack (1902–1943) aktiv waren – war Havemann 1943 von den Nationalsozialisten zum Tode verurteilt worden, aber hatte im Zuchthaus Brandenburg überlebt.222 Die Magistrats-Entscheidung wurde jedoch weder von der Göttinger Generalverwaltung noch von Planck akzeptiert;223 für sie war Havemann politisch und wissenschaftlich nicht akzeptabel.224 Dieser Widerstand gegen Havemann spiegelte nicht nur die politischen Differenzen wider, sondern auch verschiedene Interessenlagen. In Göttingen war die Generalverwaltung um Telschow bemüht, sich wieder in die alten Rechte einzusetzen, während Glum in Berlin versuchte, neuen Einfluss zu gewinnen.225 Außerdem vertraten die alliierten Siegermächte, wie schon mehrfach erwähnt, unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Weiterführung dieser Forschungsorganisation, wobei mit dem bald beginnenden Kalten Krieg ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion zutage trat.226

1.6.2 Ein eingespieltes Team: Hahn und Telschow

Anfang Juni 1945 gelangte Max Planck mit Hilfe des Astronomen Gerard Kuiper (1905–1973), Mitglied des vom Physiker Samuel Goudsmit (1902–1978) geleiteten wissenschaftlichen Stabs der Alsos-Mission, aus der künftigen sowjetischen Besatzungszone nach Göttingen. Planck hatte 1943 Berlin aufgrund des Luftkriegs verlassen und in Rogätz Unterschlupf bei Freunden gefunden. Bei einem Luftangriff auf Berlin im Februar 1944 wurde sein Haus im Grunewald getroffen und völlig zerstört, mit ihm verbrannte seine gesamte Bibliothek, darunter unersetzliche wissenschaftliche Aufzeichnungen, Tagebücher und Briefe. Doch den schwersten Schicksalsschlag erlitt der 87-jährige Planck im Januar 1945, als er seinen Sohn Erwin, und damit zugleich seinen „engsten Vertrauten“,227 das jüngste Kind aus der Ehe mit Marie Merck (1861–1909) verlor.228 Am 23. Juli 1944 wurde Erwin Planck wegen Beteiligung am Aufstand vom 20. Juli 1944 verhaftet und in das Hauptquartier der Gestapo gebracht. Drei Monate später, am 23. Oktober 1944, wurde er vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Max Planck machte Eingaben bei Himmler und Göring. Vergebens bat er Adolf Hitler als Dank des deutschen Volkes für seine Lebensarbeit um Gnade für seinen Sohn und um die Umwandlung der Todesstrafe in eine Freiheitsstrafe.229 Am 23. Januar 1945 wurde Erwin Planck im Zuchthaus Plötzensee hingerichtet, ohne dass seine Familie darüber in Kenntnis gesetzt worden war. Diese hatte ihn noch in Sicherheit gewähnt, nachdem Anfang November Reichsführer SS Himmler veranlasst hatte, den Strafvollzug auszusetzen und in einem Schreiben zum Ausdruck gebracht hatte, „dass er eine Begnadigung durch die Umwandlung in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe für vertretbar hielte.“230 Nach der Hinrichtung seines Sohnes schrieb Max Planck an Arnold Sommerfeld (1868–1951): „Mein Schmerz ist nicht mit Worten auszudrücken. Ich ringe nur um die Kraft, mein zukünftiges Leben durch gewissenhafte Arbeit sinnvoll zu gestalten.“231

In Göttingen drängte Telschow Planck, als geschäftsführender Präsident einzuspringen. Planck, der sein ganzes Leben in den Dienst der Wissenschaft gestellt hatte, erklärte sich am 24. Juli 1945 übergangsweise dazu bereit.232 Zugleich schlug er den verbliebenen KWG-Direktoren per Brief Otto Hahn als neuen Präsidenten vor. Diese stimmten Plancks Vorschlag im Umlaufverfahren zu.233

Bereits im April 1945 waren zehn am deutschen Uranprojekt beteiligte Wissenschaftler (darunter die KWG-Wissenschaftler Otto Hahn, Werner Heisenberg, Max von Laue, Horst Korsching (1912–1998), Karl Wirtz und Carl-Friedrich von Weizsäcker) von anglo-amerikanischen Truppen im Auftrag der Alsos-Mission234 verhaftet und bis Anfang 1946 auf dem britischen Landsitz Farm Hall interniert worden. In den letzten Wochen ihrer geheim gehaltenen Haft wurden in Gesprächen mit alliierten Vertretern – vor allem britischen Wissenschaftlern und Wissenschaftspolitikern – Grundlagen für die Wissenschaftspolitik in Nachkriegsdeutschland geschaffen.235 In Farm Hall erfuhr Hahn Ende September 1945 von den Plänen für seine Zukunft als Präsident der Gesellschaft. Im November 1945, sechs Monate nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht und drei Monate, nachdem am 6. August 1945 auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki Atombomben abgeworfen worden waren, wurde die Verleihung des Nobelpreises an Hahn bekanntgegeben – zu diesem Zeitpunkt ein enormes Vertrauensvotum für Hahn und die deutsche Wissenschaft.236

Nach Ansicht von Gerhard Oexle237 steht diese Auszeichnung Otto Hahns in dem klar erkennbaren Kontext, „daß Hahn nach dem 6. August 1945 von eben jenen britischen Wissenschaftlern gegenüber der Öffentlichkeit gewissermaßen für die Funktion ‚aufgebaut‘ wurde, für die er vorgesehen war, für die Funktion des neuen Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und für die damit verbundene Aufgabe des Wiederaufbaus der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung in Deutschland.“238 Ruth Lewin Sime steht dieser Interpretation kritisch gegenüber, und verweist darauf, dass es keinerlei Indizien gäbe, die dies belegten: Weder habe ein britischer Wissenschaftler jemals Hahn nominiert, noch hätten die Briten dem noch in Farm Hall internierten Hahn erlaubt, an der Nobelpreiszeremonie teilzunehmen.239

Planck leistete in dieser Übergangszeit sowohl bei den Besatzungsmächten als auch bei den neuen deutschen Politikern vor allem Lobbyarbeit für die Erhaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und ihrer Institute. Im September 1945 bevollmächtigte Planck neben Telschow auch die noch amtierenden Sektionsvorsitzenden des Wissenschaftlichen Rats, Butenandt und Kühn,240 die sich beide in Tübingen und damit in der französischen Besatzungszone befanden, im Falle seiner Verhinderung die Verhandlungen über die Zukunft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu führen.241 Damit lag ein Schlüssel für die weitere Entwicklung der Gesellschaft bei der Generalverwaltung. Telschow vertrat dann auch die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in dem von der britischen Militärregierung Anfang Januar 1946 gegründeten „Deutschen Wissenschaftlichen Rat“, der die britische Militärregierung in wissenschaftlichen Fragen beraten sollte und dem später auch Hahn und Heisenberg angehörten.

Die ersten Monate nach Kriegsende waren vor allem dadurch kennzeichnet, die Arbeitsfähigkeit der Institute und die Lebensmöglichkeiten der Mitarbeiter am neuen oder gegebenenfalls alten Standort zu erhalten oder wiederherzustellen. Zudem wurden beispielsweise im Oktober 1945 das KWI für Tierzuchtforschung von Dummerstorf bei Rostock auf das Remontegut Mariensee verlegt, also von der sowjetischen in die britische Besatzungszone, oder das noch 1943 in Wien begründete KWI für Kulturpflanzenforschung nach Gatersleben in der sowjetischen Besatzungszone. Nicht zuletzt, um die führenden Forschungskräfte bis zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Institute sinnvoll zu beschäftigen, wurde von der britisch-amerikanischen Field Information Agency, Technical (FIAT) im Mai 1946 beschlossen, deutsche Wissenschaftler Übersichtsartikel über die während des Krieges durchgeführten Forschungsarbeiten auf den Gebieten der naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschung erarbeiten zu lassen, und damit zugleich den beteiligten Wissenschaftlern ein Einkommen zu verschaffen. An den 1947/48 erscheinenden FIAT Reviews of German Science 1939–1946 – es erschienen 88 entsprechende Berichte – waren auch zahlreiche KWG-Wissenschaftler beteiligt.

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland übernahm Hahn am 1. April 1946 die Präsidentschaft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Max Planck wurde Ehrenpräsident.242 Auch international wurde Hahns Präsidentschaft begrüßt und als Grundlage für einen möglichen Wiederaufbau der deutschen Wissenschaft betrachtet. Zu den Befürwortern seiner Amtsübernahme gehörten auch ehemalige Weggefährten, die gezwungen gewesen waren ins Exil zu gehen, wie etwa Otto Meyerhof. Dieser schrieb 1945 an Hahn:

Das masslose Disaster in Deutschland das den masslosen Verbrechen einigermassen adäquat ist, […] muss allen denen die unschuldig hineingerissen sind schwer auf der Seele liegen. Ich hoffe dass Sie Vert[r]auen aus dem Umstand schöpfen, dass Ihr wissenschaftliches und moralisches Ansehen in der ganzen Welt hochgeachtet geblieben ist und dass alle wissen, dass Sie nicht „mit den Wölfen geheult haben“. […] Ausser Ihnen und von Laue ist keiner da, der solches Vert[r]auen bei den ausländischen Fachgenossen geniesst, und für alle Reconstruction scheint mir das entscheidend ins Gewicht zu fallen.243

Auch Lise Meitner begrüßte die Wahl Hahns und versuchte gleichzeitig, ihn davon zu überzeugen, dass sich die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und die Deutschen insgesamt mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen müssten. Es sei notwendig dafür Verantwortung übernehmen, statt wegzuschauen:

Wenn jetzt nicht die besten Deutschen verstehen, was geschehen ist und nicht wieder geschehen darf, wer soll der heranwachsenden Jugend beibringen, daß der versuchte Weg ein Unglück für die Welt und ebenso für Deutschland war? In den Berichten über den Nürnberger Prozeß war jedesmal, wenn sichtbare Beweise für die Grausamkeiten in den Konzentrationslagern vorgeführt wurden, zu lesen: Herr [Hjalmar] Schacht schaut weg. Die ungeheuerlichen Probleme unserer Zeit, die die Nazi-Wirtschaft heraufbeschworen hat, erlaubten nicht wegzuschauen. Das darf man über aller Alltagsnot nicht vergessen.244

Doch konnte oder wollte Hahn diesem Appell nicht folgen, sondern zog es vor, die Deutschen als Opfer Hitlers und des Krieges zu betrachten.245 Er sei der Angehörige „eines Landes [...], das durch sein Regime und durch einen fast sechsjährigen Krieg das wohl unglücklichste Land der Welt geworden“ sei, erklärte er in seiner Dankesrede bei der Überreichung des Nobelpreises an ihn. Und fuhr fort:

Es ist wohl doch nicht vielen Menschen außerhalb Deutschlands wirklich klar, unter welchem Druck die meisten während der letzten 10 oder 12 Jahre gelebt haben; und ich darf noch einmal sagen, wie viele meiner deutschen Kollegen sich trotz aller äußerlichen Hemmnisse bemüht haben, auch die reine Wissenschaftsforschung, soweit es irgend möglich war, während der Kriegszeit fortzusetzen.246

Diesen Opfermythos kommentierte Meitner in einem Brief an James Franck mit den Worten: „Nur die Vergangenheit vergessen und das Unrecht hervorheben, das Deutschland geschieht.“247 Ähnlich kommentiert auch Mark Walker Hahns Verdrängen:

Sieht man einmal ab von der erschütternden Rolle, die die Kaiser-Wilhelm-Institute für Anthropologie, Hirnforschung und Psychiatrie bei den unmenschlichen medizinischen Experimenten in Konzentrationslagern und Einrichtungen des NS-Gesundheitswesens direkt und indirekt spielten, läßt man ferner die hohe Qualität der militärischen Forschung an den Kaiser-Wilhelm-Instituten für Metallforschung, für Aerodynamik etc. außer Betracht und berücksichtigt auch nicht die biologisch ausgerichteten Institute, die eingerichtet wurden, um sich die deutsche Vorherrschaft in Osteuropa und die eroberten Gebiete der westlichen Sowjetunion zunutze zu machen, dann bleibt dennoch festzuhalten, daß Hahn sich daran hätte erinnern müssen, daß das deutsche Uranprojekt, einschließlich der involvierten Kaiser-Wilhelm-Institute für Chemie, für Physik und für medizinische Forschung, angewiesen war auf die in den eroberten Ländern erbeuteten Rohstoffe und Apparate – Uran, schweres Wasser, Teile von Nuklearreaktoren etc. – und daß es die Entwicklung neuer Energiequellen und Waffen zum Ziel hatte.248

Abb. 1.7: Lise Meitner mit Otto Hahn am 16. März 1959 im Berliner Restaurant „Wannsee-Terrassen“. Beide weilten anlässlich der Amtsübergabe von Max von Laue an Rudolf Brill (1899–1989) als Direktor des Fritz-Haber-Instituts in Berlin.

Abb. 1.7: Lise Meitner mit Otto Hahn am 16. März 1959 im Berliner Restaurant „Wannsee-Terrassen“. Beide weilten anlässlich der Amtsübergabe von Max von Laue an Rudolf Brill (1899–1989) als Direktor des Fritz-Haber-Instituts in Berlin.

Anfang Juli 1946 hatte Hahn über den Beauftragten für Wissenschaft der britischen Militärregierung Bertie K. Blount (1907–1999) vom geplanten Beschluss des Interalliierten Kontrollrats erfahren, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft aufzulösen.249 Die Amerikaner und Franzosen waren zunächst weniger als die Briten an einem Wiederaufbau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft interessiert. Außerdem hatten die Siegermächte durchaus Zweifel an der moralischen Integrität der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und ihrer Mitglieder. Planck, der als einziger deutscher Repräsentant – doch offiziell als Privatgast – zu der Mitte Juli 1946 in der Royal Society stattfindenden Feier des 300. Geburtstages von Isaac Newton (1643–1727) eingeladen worden war, wird diese Gelegenheit wohl genutzt haben, um noch einmal für die Erhaltung der KWG zu werben.250

Der angekündigte Auflösungsbeschluss führte dazu, dass am 11. September 1946 in Bad Driburg unter Blounts tatkräftiger Mithilfe die „Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.“ in der britischen Zone gegründet wurde, während in der amerikanischen und französischen Zone sowie in West-Berlin bis auf Weiteres die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft noch fortbestand. Aus diesem Anlass sandte Planck ein Dank- und Glückwunschtelegramm, das den für die Nachkriegspolitik der neuen Gesellschaft programmatischen Satz enthielt, „möge die Max Planck Gesellschaft stets die Tradition der Kaiser Wilhelm Gesellschaft fortsetzen und sich immer bewußt bleiben, daß sie unabhängig von allen Strömungen der Zeit nur der Wahrheit der Wissenschaft dienen soll.“251

Die neue Gesellschaft sollte zunächst lediglich im Fall einer tatsächlichen Auflösung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft als Auffanggesellschaft dienen, um den Instituten dann einen neuen Träger bieten und verhindern zu können, dass auch sie infolge der KWG-Auflösung geschlossen werden müssten. Den vorläufigen Vorstand der neuen Gesellschaft bildeten Hahn und Telschow, die auf unterschiedliche Weise die Kontinuität zwischen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Max-Planck-Gesellschaft personifizierten.

Telschow, der ehemalige Generalsekretär der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, wurde von 1948 bis 1960 Generaldirektor der Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft, und schließlich von 1960 bis 1962 auch noch persönlicher Berater von Hahns Nachfolger Adolf Butenandt. Obwohl Telschow aufgrund seiner früheren Machtfülle und seines „faustischen Pakts“ mit dem NS-Regime bei einigen Mitgliedern der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft bzw. der Max-Planck-Gesellschaft und insbesondere bei den vertriebenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern höchst umstritten war, wollte Hahn nicht auf ihn verzichten, wohl aus Sorge ohne Telschow dem Präsidentenamt nicht gewachsen zu sein. Wie zuvor auch schon Planck, räumte Hahn 1946 ein: „Bei einem Verlust seiner in vielen Jahren erprobten Persönlichkeit wüßte ich nicht, wie die Geschicke der Gesellschaft in der jetzigen schweren Zeit weitergeführt werden könnten.“252 Hahn fühlte sich also angewiesen auf Telschow – und wollte dies auch sein. Und selbst als 1949 die Beitrittsgespräche über die in der französischen Besatzungszone befindlichen Institute zur Max-Planck-Gesellschaft mit den „Tübinger Herren“, wie die süddeutschen Direktoren der Kaiser-Wilhelm-Institute in Göttingen genannt wurden, aus politischen Gründen an der Personalie Telschow zu scheitern drohten,253 notierte Hahn in seinem Tagebuch, dass er sich für Telschow einsetze, „weil ich ja die Verdienste von T. gut kenne (allerdings auch sein Auftreten oft bedauert habe).“254 Der Umstand, dass Telschow seine Ausnahmekarriere auch in der Nachkriegszeit in der Max-Planck-Gesellschaft fortsetzen konnte, ist im Wesentlichen den „Persilscheinen“ zu verdanken, die ihm Max Planck, Otto Hahn und Adolf Grimme (1889–1963) ausstellten.255

1.6.3 Territorialansprüche: Neugründung mit Hindernissen

Der neuen Gesellschaft gehörten zunächst dreizehn bisherige Kaiser-Wilhelm-Institute an: Arbeitsphysiologie (Dortmund), Landwirtschaftliche Arbeitswissenschaft und Landtechnik (Gut Imbshausen), Bastfaserforschung (Stammbach, dann Bielefeld), Eisenforschung (Düsseldorf), Hirnforschung (Göttingen), Hydrobiologische Anstalt (Plön), Instrumentenkunde (Göttingen), Kohlenforschung (Mülheim/Ruhr), Physik (Göttingen), Deutsches Spracharchiv/Phonometrie (Braunschweig), Strömungsforschung (Göttingen), Tierzucht und Tierernährung (Remontegut Mariensee), Züchtungsforschung (Gut Voldagsen). Als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft konnte Hahn das KWI für Chemie nicht mehr leiten,256 und der bisherige stellvertretende Direktor Josef Mattauch (1895–1976) übernahm die Direktion des Instituts, das schließlich 1949 aus dem württembergischen Tailfingen nach Mainz umzog.257

Unklar war zunächst auch die Zukunft der in Berlin zurückgebliebenen Institute beziehungsweise Teilinstitute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.258 Das KWI für physikalische Chemie und Elektrochemie hatte nur wenige Kriegsschäden davongetragen und konnte die Arbeit bald wieder aufnehmen. Vom KWI für Physik waren zwar das Kälte- und das Hochspannungslaboratorium in Dahlem verblieben, die aber nach Kriegsende von der sowjetischen Besatzungsmacht demontiert wurden. Auch das KWI für Silikatforschung war mit einigen Abteilungen noch in Berlin verblieben; Luise Holzapfel (1900–1963) übernahm die kommissarische Institutsleitung und ihre Abteilung, die sich unter anderem mit der Berufskrankheit Silicose befasste, konnte weiterarbeiten. Vom KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik war die von Hans Nachtsheim (1890–1979) geleitete Abteilung für experimentelle Erbpathologie arbeitsfähig geblieben, aber das stark NS-belastete Institut auch nicht offiziell geschlossen worden. Da das Institut wie auch das Harnack-Haus, das zum amerikanischen Offiziersclub umfunktioniert wurde, zu den von der amerikanischen Besatzungsmacht beschlagnahmten Gebäuden gehörte, zog die Abteilung Nachtsheim zunächst in Räume des KWI für Silikatforschung um.

Die frühe Geschichte der Berliner Institute zeigt auf ihre Weise, wie wenig selbstverständlich die Kontinuität zwischen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Max-Planck-Gesellschaft war. Die Diskussionen über eine mögliche Schließung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft durch die Besatzungsmächte führte dazu, dass Glum und der Leiter der amerikanischen „Education“-Abteilung Fritz Karsen (1885–1951) einen alternativen Plan entwickelten, den Glum wohl auch als Chance ansah, seine eigene Rolle wieder zu stärken.259 Ihre Initiative, sowie die Sorge um die Finanzierung der Berliner Institute angesichts der sich verschärfenden politischen Spannungen kurz vor der Berliner Blockade, führten dazu, dass die fünf Länder der amerikanischen Besatzungszone am 3. Juni 1947 einen Staatsvertrag über die Gründung einer Deutschen Forschungshochschule in Berlin-Dahlem abschlossen. Das Konzept war an das amerikanische Konzept der School of Advanced Studies angelehnt. Zunächst aber diente die Deutsche Forschungshochschule vor allem als eine Art Auffanggesellschaft für die Finanzierung der in Dahlem noch bestehenden KWI und Restabteilungen. Im Juni 1947 wurde daraufhin das KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie organisatorisch mit dem Institut für Zellphysiologie von Otto Warburg und den Restgruppen einiger anderer Kaiser-Wilhelm-Institute in der Forschungshochschule zusammengeschlossen.260 Es wäre durchaus denkbar gewesen, dass sich im Westen eine stärker an amerikanischen Vorbildern orientierte Forschungsorganisation durchgesetzt hätte, während sich die im Osten verbliebenen KWG-Institute zu Bestandteilen einer Akademie nach sowjetischem Vorbild entwickelten. So wurden die Institutsgebäude in Berlin-Buch im Ostteil Berlins von der Deutschen Akademie der Wissenschaften (der späteren Akademie der Wissenschaften der DDR) übernommen, die des KWI für Züchtungsforschung in Müncheberg gingen an die spätere Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der DDR. Das Ringen um eine Fortführung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in neuer Form und die Unterstützung dieser Bemühungen durch die britische Besatzungsmacht verhinderten diese Entwicklung und ermöglichten die Transformation der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in die Max-Planck-Gesellschaft. Am 23. Februar 1950 traten schließlich die Dahlemer Forschungsinstitute aus der Forschungshochschule aus und wurden Teil der „Berliner Vertretung der Max-Planck-Gesellschaft Göttingen“.261

Der von Göttingen abgelehnte Havemann wurde Anfang 1948 unter dem Vorwand einer Verletzung des Kontrollratsgesetzes Nr. 25 als Verwaltungsleiter der Berliner Kaiser-Wilhelm-Institute abgesetzt.262 Von Juli 1949 bis zum Liquidationsbeschluss 1951 fungierte der schon seit Ende 1922 bei der Generalverwaltung tätige Bürodirektor und Telschow-Vertraute Franz Arndt (1884–1968) als Notvorstand für die nur noch als Rechtskörper existierende Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Zu diesem Zeitpunkt war bereits absehbar, dass unter den gegebenen politischen Umständen mit einem Wiederaufbau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin nicht mehr zu rechnen sei. Deshalb orientierte man sich bereits kurz nach Hahns Amtsantritt als Präsident auch in der sowjetischen Zone neu und war im Zuge des Wiederaufbaus der „Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ als „Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ zu dem Schluss gekommen, frühere Überlegungen einer mit Forschungsinstituten ausgestatteten Akademie wieder aufleben zu lassen, und die auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone verbliebenen KWI boten sich dafür an.263

Die politischen Veränderungen zu Beginn des Kalten Krieges hatten zu einem Umdenken in der anglo-amerikanischen Politik geführt: Das ursprüngliche Ziel der Alliierten, Sicherheit vor Deutschland zu erlangen, wandelte sich zum Ziel der Westalliierten, Sicherheit mit (West-)Deutschland zu erreichen.264 Und es bedeutete nicht nur eine Förderung der Wirtschaftsentwicklung, sondern auch der Wissenschaftsentwicklung.265 Am 4. August 1947 führte Otto Hahn ein persönliches Gespräch mit General Lucius D. Clay (1897–1978).266 Bei dieser Unterredung erklärte sich Hahn mit den Forderungen einverstanden, dass eine künftige Gesellschaft sich von Industrie- und Staatseinfluss fernhalten, eine gewisse Demokratisierung von Entscheidungsprozessen zulassen und auf den Namen des kaiserlichen Schutzpatrons verzichten müsse.267 Anfang September 1947 gab Clay grünes Licht für eine „bizonale Organisation“ der Max-Planck-Gesellschaft.

Bereits zum 24. Februar 1948 wurde die erst anderthalb Jahre zuvor in der britischen Zone gegründete Max-Planck-Gesellschaft wieder aufgelöst, um den Weg für eine weitere Neugründung zu ebnen. Mit Zustimmung der jeweiligen Militärregierungen wurde am 26. Februar 1948 die „Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.“ in Göttingen zunächst nur für die britische und die amerikanische Zone gegründet. Das Gründungsstatut der Max-Planck-Gesellschaft bestimmte als gemeinnützigen Zweck, „die Wissenschaften zu fördern, insbesondere durch Unterhaltung von Forschungsinstituten“. Anders als zuvor bei der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurde auf die ausdrückliche Hervorhebung der naturwissenschaftlichen Forschung verzichtet. Dennoch wurden zunächst nur eine chemisch-physikalisch-technische Sektion unter dem Vorsitz von Heisenberg und eine biologisch-medizinische Sektion unter dem Vorsitz von Rajewsky gebildet – für eine geisteswissenschaftliche Sektion fehlten in der „Bizone“ noch die Institute. Erwartungsgemäß wurde Otto Hahn zum Präsidenten gewählt, Erich Regener zum Vizepräsidenten und Ernst Telschow zum Generaldirektor der Generalverwaltung, Schriftführer und dessen Stellvertreter wurden Max von Laue und Richard Kuhn. Im Juli 1949 erkannte auch die französische Militärregierung die Max-Planck-Gesellschaft an und im Herbst 1949 traten auch die dort befindlichen ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Institute der neuen Gesellschaft bei.268 1953 kamen schließlich auch die Westberliner Institute sowie die Bibliotheca Hertziana in Rom zur Max-Planck-Gesellschaft.

Damit war die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft de facto aufgelöst. Die Liquidation der Gesellschaft wurde am 6. April 1951 beschlossen und schließlich am 21. Juni 1960 vollzogen – drei Wochen nachdem Hahn sein Amt als Präsident und fünf Wochen nachdem Telschow sein Amt als Generaldirektor niedergelegt hatten.269 Im Rückblick bezeichnete Hahn die Jahre, die es gedauert hatte, bis die Existenz der Gesellschaft wieder gesichert war, als den Zeitraum, in dem „die vielleicht gefährlichste Situation für das Fortbestehen unserer Gesellschaft überwunden werden mußte“.270

1.6.4 Gewollte Brüche und konstruierte Kontinuitäten

Man kann wohl davon ausgehen, dass die Teilnehmer der Gründungsversammlung der Max-Planck-Gesellschaft im Februar 1948 der Auffassung waren, im Wesentlichen nur eine Namensänderung vorzunehmen, gemäß dem von Planck bereits 1946 geäußerten Wunsch, die Max-Planck-Gesellschaft möge die Traditionen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft fortsetzen. Aber konnte diese Wissenschaftsgesellschaft unter neuem Namen und in einer erneuerten demokratischen Gesellschaft einfach zur Tagesordnung übergehen? Sie versuchte es jedenfalls zunächst.

Unter den Aspekten „Wiederaufbau der wissenschaftlichen Forschung“ sowie „Wiederherstellung des Anschlusses an die internationale Wissenschaftsentwicklung“ ließen sich zunächst auch alle Kräfte in diesem Sinne bündeln. Noch 1961 erklärte Butenandt als Präsident anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, „daß man [...] nicht mehr zwischen der früheren Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der heutigen Max-Planck-Gesellschaft unterscheidet.“271 Die Politik der Max-Planck-Gesellschaft war – wie die gesamtdeutsche Gesellschaft generell – nach dem Krieg von einer Vergangenheitsverdrängung gekennzeichnet, die die Anstrengungen zum Neuaufbau von Staat und Wissenschaft begleitete. Es sollte bis in die Mitte der 1980er Jahre dauern, bis man sich auch in der Max-Planck-Gesellschaft bewusst wurde, dass die historische Wahrheit nicht nur etwas mit Vergangenheitsbewältigung, sondern auch mit Zukunftsfähigkeit zu tun hat, und weitere zehn Jahre, bis man in dieser Hinsicht aktiv wurde. Die hier bereits mehrfach angeführten „Ergebnisse“ der von Markl einberufenen Präsidentenkommission belegen dies eindrucksvoll.272

Ein besonderes Kapitel der Nachkriegsgeschichte der Gesellschaft stellt die Wiedergutmachung oder Entschädigung der durch den Nationalsozialismus verfolgten und vertriebenen Forscherinnen und Forscher dar.273 An alliiertes Recht anknüpfend waren diese Leistungen grundsätzlich durch die Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland geregelt. Doch wo „die Setzung von Recht die Verpflichtungen und Erwartungen von Antragstellern und Antragsgegnern in erschöpfender Form regeln will, kann die Auseinandersetzung mit moralischen Fragen zu einer hermeneutischen Tätigkeit verkümmern,“274 zumal das Gesetz so gefasst war, dass die Beweislast bei den Geschädigten lag.

Schwer tat sich die MPG auch mit der Wiedergewinnung – als einer Möglichkeit der Wiedergutmachung – von durch die Nationalsozialisten in die Emigration gezwungenen Wissenschaftlern. Das Verhalten der Verantwortlichen in der MPG ist kaum zu entschuldigen, auch wenn man berücksichtigt, dass in der Regel mehr als 15 Jahre vergangen waren und viele der betroffenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler folglich eher am Ende ihrer Laufbahn standen und dass andererseits Wissenschaftler, die einigermaßen in ihren Gastländern Fuß fassen konnten und entsprechende Positionen bekleideten, wenig Interesse an der Rückkehr zeigten, zumal die Arbeits- und Lebensbedingungen im Nachkriegsdeutschland nicht die besten waren. Im Dezember 1948 hatte Hahn an einige emigrierte ehemalige KWG-Mitglieder die Anfrage gerichtet, ob sie nunmehr einer Aufnahme als auswärtiges Mitglied der MPG zustimmen würden. Entschuldigung oder Wiedergutmachung war dies nicht, sondern einfaches Übergehen der vergangenen Jahre. Die Reaktionen darauf fielen dementsprechend unterschiedlich aus.

Eine Rückkehr der Vertriebenen in die Max-Planck-Gesellschaft gab es nur in sehr wenigen Fällen.275 Die alten Seilschaften, die die Kontinuität der Generalverwaltung sicherten, wirkten hier auf unrühmliche Weise.

Das zeigt insbesondere das Beispiel des ehemaligen Direktors des KWI für Biochemie Carl Neuberg (1877–1956). Neuberg gilt als einer der Begründer der Biochemie – den Begriff selbst hatte er 1906 eingeführt.276 Ab 1913 hatte er die Abteilung Biochemie im KWI für experimentelle Therapie geleitet, das 1925 in KWI für Biochemie umbenannt und dessen Direktor er im selben Jahr wurde. Da er unter Paragraph 3 des Berufsbeamtengesetzes fiel, wurde er 1934 in den Ruhestand versetzt, doch leitete er das Institut kommissarisch noch bis 1936. In New York lebte er als gelegentlicher Industrieberater „von der Hand in den Mund“,277 und wandte sich 1947 zur Klärung seiner Pensionsansprüche an die Generalverwaltung. In seiner Personalakte findet sich 1949 dazu ein Eintrag, der als symptomatisch für zahlreiche andere Fälle betrachtet werden kann:

Die Max-Planck-Gesellschaft ist nicht Rechtsnachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und hat infolgedessen an sich nicht für die Ansprüche früherer Angehöriger der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft einzustehen. Trotzdem bemüht sich die Max-Planck-Gesellschaft bei den die Gesellschaft zurzeit finanzierenden 11 westdeutschen Ländern, die erforderlichen Beträge zu erhalten.278

Der hier betonte Mangel an Kontinuität steht in starkem Gegensatz zu dem sonstigen Bemühen der Max-Planck-Gesellschaft, ihre Kontinuität zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft herauszustellen. Gerade die Frage der Pensionsansprüche spielte für ältere Wissenschaftler eine große Rolle, auch wenn sie im Ausland eine Anstellung gefunden hatten, wie das Beispiel Debye verdeutlicht, der Anfang 1940 Deutschland verlassen musste und noch 1965 in diesem Zusammenhang schrieb: „[…] wurde ich von der Cornell Universität als ‚Head of the Chemistry Dept.’ angestellt. Diese Stelle war hauptsächlich administrativ, da für Versuche kein Geld vorhanden war. […] Als ich 1952 das 68te Lebensjahr erreicht hatte wurde ich emiritiert [sic!], jedoch ohne Pension.“279 Sechzig Jahre später brachte die Max-Planck-Gesellschaft zum Abschluss des Forschungsprogramms ein Gedenkbuch für die von den Nationalsozialisten aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vertriebenen Forscherinnen und Forscher heraus,280 in dem 104 betroffene Personen gewürdigt wurden, was ihnen die Max-Planck-Gesellschaft nach Ansicht von Präsident Peter Gruss „als Erbin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft“ schuldig war.281

1.6.5 Die Max-Planck-Gesellschaft bis 1960

Trotz der problematischen Kontinuität zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wuchs die Max-Planck-Gesellschaft allmählich in eine demokratische Gesellschaftsordnung hinein und veränderte dabei auch ihre Strukturen. Dies war Teil eines Lernprozesses, der durch die von den Alliierten gesetzten Randbedingungen und die neuen politischen Konstellationen angelegt war, sich aber nachhaltig auf die Strukturen der Max-Planck-Gesellschaft und auf das Selbstverständnis ihrer Träger auswirken sollte. Auch die oft nur als Verdrängung der Vergangenheit spürbare Präsenz der Erinnerung an die Verbrechen und Katastrophen der NS-Ära wirkte sich langfristig wohl doch im Sinne einer größeren Zurückhaltung in Bezug auf Opportunitäten staatlicher und wirtschaftlicher Indienstnahme der Gesellschaft aus. So konnte auf neuer Grundlage versucht werden, den bereits in der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angelegten Anspruch auf die Selbstbestimmung wissenschaftlicher Schwerpunktsetzung zu realisieren und ihn in Richtung einer weiter gehenden Entkoppelung der Forschung von Anwendungsinteressen und äußeren Einflussnahmen sowie in Richtung auf ein arbeitsteiliges Wissenschaftssystem zu entwickeln. Der damit verbundene Balanceakt durch die notwendige Einbindung der gesellschaftlichen Kräfte, die erst eine solche Forschung ermöglichen konnten, war zwar stets prekär, wurde aber durch die demokratischen Strukturen der Bundesrepublik begünstigt.

In der Tat hatten Staat und Wirtschaft wohl einen weitaus geringeren Einfluss auf die Gründung und Ausrichtung von Instituten der Max-Planck-Gesellschaft als dies bei der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft der Fall gewesen war. Ausnahmen bildeten allerdings, insbesondere hinsichtlich der Finanzierung, etwa die industrienahen Max-Planck-Institute für Kohlenforschung und für Metallforschung. Insgesamt jedoch lässt sich festhalten, dass die Wirtschaft und andere starke gesellschaftliche Kräfte vor allem über die Gremien der Max-Planck-Gesellschaft wie den Senat, den Verwaltungsrat, aber auch die Kuratorien in die Gestaltung der Gesellschaft eingebunden waren und weitaus weniger direkten Einfluss ausüben konnten, als das bei der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft üblich war. Einflussreiche Persönlichkeiten brachten gewiss auch partikulare Interessen in diese Beratungen ein, ebenso aber ihre soziale Kompetenz und Lebenserfahrung. Wie weit darüber hinaus Netzwerke von Führungseliten die Geschicke der Max-Planck-Gesellschaft prägten und für welche Entscheidungen am Ende doch Einzelinteressen, auch wirtschaftlicher, politischer oder militärischer Natur, ausschlaggebend waren, muss der weiteren Forschung vorbehalten bleiben. Die Unabhängigkeit der Max-Planck-Gesellschaft von staatlicher Einflussnahme wurde jedenfalls insbesondere durch den Finanzierungsmodus der Gesellschaft begünstigt.

Die Grundlage dafür bildete 1949 das Königsteiner Staatsabkommen, in dem die künftigen Bundesländer unter anderem finanzielle Regelungen für die Finanzierung überregionaler Forschungseinrichtungen verabredeten.282 Für die Max-Planck-Gesellschaft bedeutete dies, dass sie fortan zu gleichen Teilen von Bund und Ländern finanziert und damit auch administrativ zu einer „Säule des deutschen Wissenschaftsbetriebs“ wurde. Die durch die Finanzierung aus Mitteln von Bund und Ländern bedingte Komplexität stellte einerseits eine Herausforderung an das Verhandlungsgeschick der jeweiligen MPG-Leitung dar, schützte die Gesellschaft andererseits aber auch vor einseitigen Indienstnahmen. Als politischer Imperativ verblieb so vor allem der Anspruch auf eine angemessene Verteilung von Max-Planck-Instituten über die Länder. Wegweisend für die unabhängige Forschung innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft war insbesondere die Tatsache, dass die finanziellen Zuwendungen sowohl von staatlicher als auch von privater Seite im Wesentlichen frei von Auflagen erfolgten und von der Max-Planck-Gesellschaft proaktiv verteilt werden konnten. Das erlaubte der Max-Planck-Gesellschaft ab Mitte der 1950er Jahre erstmals wieder ein über einen längeren Zeitraum angelegtes eigenes wissenschaftliches Konzept zu realisieren.283

Die fünfziger Jahre waren durch eine Reorganisation der Gesellschaft charakterisiert, in deren Rahmen zahlreiche Forschungsstellen und Institute umbenannt, umgewidmet, umgesiedelt, zusammengeschlossen, ausgegliedert, gegründet oder in die Max-Planck-Gesellschaft übernommen wurden. Diese Mutationsfähigkeit und Fertilität erlaubte die Fokussierung der Max-Planck-Gesellschaft auf die Grundlagenforschung zu schärfen und neuen Forschungsrichtungen institutionelle Unterstützung zu gewähren. Ausschlaggebend für den Erfolg war oft gerade eine Kombination aus Themenwahl und institutioneller Effizienz. Bei der Themenwahl haben sich verschiedene Strategien als erfolgreich erwiesen, etwa die Reflexion auf den Stand des Faches, insbesondere auch im internationalen Kontext. Dies konnte etwa zu dem Schluss führen, dass die Aufgabe eines Instituts darin bestehen sollte, eine Katalysatorfunktion für bereits existierende innovative Perspektiven auszuüben. Schließlich bedürfen wissenschaftliche Durchbrüche auch einer nachhaltigen Umsetzung.

Zahlreiche Beispiele belegen die Fähigkeit von Instituten, neue Themen hervorzubringen, und die Fähigkeit der Max-Planck-Gesellschaft, diesen eine angemessene institutionelle Grundlage zu gewähren. So wurde beispielsweise 1950 unter Konrad Lorenz (1903–1989) in Buldern (Westfalen) eine Forschungsstelle für Verhaltensphysiologie gegründet, die ein Jahr später dann dem MPI für Meeresbiologie als eigene Abteilung angeschlossen wurde; 1954 wurde daraus das MPI für Verhaltensphysiologie, das später in Seewiesen angesiedelt wurde. Ein weiteres Beispiel ist die Entstehung der Chronobiologie mit den Pionierarbeiten von Jürgen Aschoff Mitte der fünfziger Jahre am MPI für medizinische Forschung und die spätere Institutionalisierung dieser Forschungsrichtung am MPI für Verhaltensphysiologie. Die dort für ihn gegründete Abteilung wurde 1981 anlässlich der Emeritierung Aschoffs geschlossen, weil kein geeigneter Nachfolger zur Verfügung stand, aber auch weil sich gezeigt hatte, dass die bahnbrechenden Ergebnisse dieser Rhythmusforschungen inzwischen in das Stadium einer medizinisch anwendbaren Disziplin eingegangen waren, die an vielen anderen Stellen betrieben werden konnte – die Schrittmacherfunktion der Max-Planck-Gesellschaft hatte sich damit erfüllt.

In dieser Zeit gelangen der Max-Planck-Gesellschaft auch wissenschaftliche Durchbrüche mit überragenden, wenn auch so nicht vorhersehbaren wirtschaftlichen Konsequenzen. Ein Beispiel dafür ist die Entdeckung der metallorganischen Mischkatalysatoren für die Polymerisation von Olefinen am MPI für Kohlenforschung, die um 1953 zur Entwicklung des Niederdruckpolyethylen-Verfahrens durch Karl Ziegler (1898–1973) und Erhard Holzkamp führte; Ziegler erhielt dafür 1963 den Nobelpreis. Heute zählt das auf dieser Basis hergestellte Polyethylen zu den Massen-Kunststoffen.

Mit der wachsenden Bedeutung der Max-Planck-Gesellschaft wurde diese auch zunehmend mit der Herausforderung konfrontiert, ihre besondere Rolle im bundesrepublikanischen Forschungssystem zu klären, aber auch ihre Zuwächse und ihre wissenschaftlichen Schwerpunktsetzungen gegenüber der Gesellschaft insgesamt zu rechtfertigen. Die Öffnung der Max-Planck-Gesellschaft zu einem solchen gesellschaftlichen Diskurs hatte eine Reihe von Konsequenzen: Sie schärfte ihr Profil, in Ergänzung zur Hochschulforschung nach dem Subsidiaritätsprinzip Schwerpunkte in der Spitzenforschung zu setzen, nach dem Harnack-Prinzip herausragenden Forschern die Gelegenheit zur langfristigen Umsetzung innovativer Forschungsprogramme zu bieten, in Grenzgebieten interdisziplinäre Forschung zu unterstützen und gemeinsam mit anderen Wissenschaftsorganisationen apparativ aufwändige Projekte zu unterstützen. Gegenüber der Gesellschaft insgesamt musste sie dabei in der Lage sein, die erheblichen Investitionen in einzelne Personen und Projekte und insbesondere auch die durch die institutionelle Förderung langfristig gewährte Forschungsfreiheit durch hohe Qualitätsansprüche und deren Umsetzung zu garantieren.

Transformationen

Keineswegs alle Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurden von der Max-Planck-Gesellschaft übernommen, dafür kamen andere hinzu, die keine Kaiser-Wilhelm-Institute gewesen waren. Eine optimale Auswahl aus der Vielzahl von den in den Westzonen bzw. der jungen Bundesrepublik liegenden Instituten zu treffen und daraus den Kern der damaligen Max-Planck-Gesellschaft zu formen, ist sicher die Leistung ihres Präsidenten Hahn gewesen. Dieser war im Juni 1954 für eine zweite Amtszeit wiedergewählt worden. Auch Vizepräsident Regener und Wilhelm Bötzkes (1883–1958),284 zweiter Vizepräsident seit 1952, wurden in ihren Ämtern bestätigt. Nach Regeners Tod 1955 wurde Kuhn zum Ersten Vizepräsidenten gewählt.

In der Phase von 1949 bis 1960 kamen insgesamt zwanzig neue Institute zur Max-Planck-Gesellschaft. Überwiegend handelte es sich dabei um ehemalige Abteilungen von Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Instituten, die jetzt mit neuem Forschungsziel selbständig wurden, oder durch Zusammenlegungen verschiedener solcher Abteilungen neu ausgerichtet wurden. Mit anderen Worten, die Aufbauarbeit in den 1950er Jahren konzentrierte sich neben der Wiederherstellung oder dem Neubau von Gebäuden vor allem auf eine Neustrukturierung und Erweiterung vorhandener Kapazitäten. Die nachfolgend beschriebenen Transformationen sollen kursorisch diese Entwicklung veranschaulichen.

So entstand beispielsweise 1957 das MPI für Physik der Stratosphäre und der Ionosphäre durch die Zusammenlegung des ehemaligen RegenerRegener-Instituts für Physik der Stratosphäre mit dem Institut für Ionosphärenforschung in der Max-Planck-Gesellschaft. Walter Dieminger (1907–2000) hatte 1934 die Ionosphären-Beobachtungsstation bei der Erprobungsstelle der Luftwaffe in Rechlin (Mecklenburg) gegründet. 1942 entstand die Zentralstelle für Funkberatung, die 1944 mit dem Fraunhoferinstitut der Reichsstelle für Hochfrequenzforschung zusammengelegt wurde und nach seiner Verlagerung im März 1946 in die britische Besatzungszone als Fraunhofer-Institut für Hochfrequenzforschung betrieben wurde – jeweils unter der Leitung von Dieminger. Im April 1947 wurde das Institut als Fraunhofer-Radio-Institut in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft der Verwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft unterstellt und die Forschung wieder zugelassen. 1948 ging die Verwaltung an die Max-Planck-Gesellschaft über. Im Januar 1949 erfolgte die Umbenennung in Institut für Ionosphärenforschung in der Verwaltung der Max-Planck-Gesellschaft, das im Oktober 1951 schließlich vollständig in die Max-Planck-Gesellschaft eingegliedert wurde und dem Dieminger als Direktor bis 1975 vorstand. Nach dem Tod von Erich Regener im Jahr 1955 wurde das Institut für Stratosphäre unter der neuen Leitung von Julius Bartels (1899–1964) nach Katlenburg-Lindau verlegt. Von 1957 bis 2004 firmierten die beiden Teilinstitute unter zunächst getrennter wissenschaftlicher Leitung unter dem Namen Max-Planck-Institut für Aeronomie.285

Das MPI für Kernphysik wurde 1958 in Heidelberg unter der Leitung von Wolfgang Gentner (1906–1980) gegründet und ging aus dem Institut für Physik des KWI/MPI für medizinische Forschung hervor, das Walther Bothe von 1934 bis 1957 geleitet hatte. Walther Bothe von 1934 bis 1957 geleitet hatte. Bothe erhielt 1954 den Nobelpreis in Physik „für seine Koinzidenzmethode und seine mit deren Hilfe gemachten Entdeckungen“, die die Messung und damit Erforschung von Strahlungsphänomenen grundlegend verbesserte. Es war der erste Nobelpreis, den ein Wissenschaftler der Max-Planck-Gesellschaft erhielt. Gentner, ein Schüler Friedrich Dessauers (1881–1963) und Frédéric Joliot-Curies (1900–1958) hatte unter anderem während des Kriegs das Pariser Zyklotron am Institut Joliot-Curies in Betrieb genommen, wobei er unter den besonderen Kriegsumständen ein kollegiales Verhältnis zu den französischen Wissenschaftlern aufbauen konnte; Ende 1944 hat er in Heidelberg gemeinsam mit Bothe das erste deutsche Zyklotron realisiert.286 Die ursprünglichen Schwerpunkte des Instituts waren kernphysikalische Grundlagenforschung und Anwendung kernphysikalischer Methoden auf Fragen der Physik und der Chemie des Kosmos.

Eines der wenigen klassischen geisteswissenschaftlichen Institute der Gesellschaft war das MPI für Geschichte, das 1955 in Göttingen als Nachfolgeinstitut des 1944 geschlossenen KWI für Deutsche Geschichte gegründet wurde, und zwar auf Grundlage einer Denkschrift des Historikers Hermann Heimpel (1901–1988).287 Heimpel, der von 1941 bis 1944 als Professor an der „Reichsuniversität Straßburg“ die Reichsgeschichte des Mittelalters gelehrt hatte, wurde auch der erste Direktor dieses Instituts. Von der Forschung des Vorgängerinstituts wurde nur die Germania Sacra weitergeführt, stattdessen bildeten unter anderem Themen und Probleme einer Gesamtwissenschaft vom Mittelalter sowie Studien über die Sozial- und Bildungsgeschichte des 19. Jahrhunderts neue Schwerpunkte des Instituts. Die Forschungen des Instituts zum Schwerpunkt „Spätmittelalter“ trugen entscheidend dazu bei, dessen Rezeption in Europa zu verändern.288

Das MPI für Arbeitsphysiologie war 1948 aus dem 1928/29 von Berlin nach Dortmund verlegten KWI für Arbeitsphysiologie hervorgegangen. Obwohl Teile des Instituts 1944 durch Kriegshandlungen zerstört wurden, konnte es seine Arbeit fortsetzen, da die luftkriegsbedingt nach Bad Ems und Diez an der Lahn ausgelagerten Abteilungen sukzessive wieder zurückkehrten.289 1956 wurde Heinrich Krauts ernährungsphysiologische Abteilung in ein eigenständiges MPI für Ernährungsphysiologie umgewandelt. und erhielt 1959 einen Neubau.290 Unter seinem Nachfolger Benno Hess (1922–2002) wurde die Biochemie der Zelle zum neuen Forschungsschwerpunkt. Das verbleibende MPI für Arbeitsphysiologie unter Gunther Lehmann (1898–1974) und dessen Nachfolger Dietrich Lübbers (1917–2005) richtete seinen Schwerpunkt – nicht zuletzt infolge des Niedergangs der rheinischen Montanindustrie – auf die quantitative Analyse der Kinetik und die Modellierung komplexer Versorgungssysteme, etwa die Versorgung des Körpers mit Sauerstoff, aus.291

Das KWI für Physik, das von Ende 1939 bis Mitte 1942 unter der formellen Leitung des Heereswaffenamtes gestanden hatte, dann aber Mitte 1942 mit seinem Uranprojekt wieder in die „zivile Forschung“ entlassen wurde, war ab Mitte 1943 teilweise von Berlin nach Hechingen in Süddeutschland verlagert worden. Seit Mitte 1942 war Werner Heisenberg Direktor am Institut. Es konnte nach dem Krieg in Hechingen, das nun zur amerikanischen Zone gehörte, zunächst eingeschränkt weiterbetrieben werden. Nach Rückkehr der in Farm Hall internierten Wissenschaftler Anfang 1946 wurde unter der Leitung von Heisenberg (Direktor) und von Laue (stellvertretender Direktor) in Göttingen in Räumlichkeiten der bisherigen Aerodynamischen Versuchsanstalt ein Neuaufbau des KWI für Physik (ab 1948 MPI für Physik) unternommen. Dafür konnten auch einige Apparaturen der Versuchsanstalt übernommen werden. Hauptarbeitsgebiet dieses neuen Instituts wurde die Elementarteilchenphysik, der sich Heisenberg schon in seinen Berliner Jahren verstärkt zugewandt hatte, sowie die Erforschung der Kosmischen Strahlung. Die Fortsetzung der eigentlichen Kernenergieforschung war aufgrund des Alliierten Kontrollratsbeschlusses Nr. 25 im Nachkriegsdeutschland nur sehr eingeschränkt gestattet. 1947 wurde außerdem eine astrophysikalische Abteilung unter Ludwig Biermann (1907–1986) angegliedert. Im Zuge der strukturellen Veränderungen in der Max-Planck-Gesellschaft wurde 1955 auf Heisenbergs Wunsch beschlossen, das MPI für Physik nach München zu verlegen und dort weiter auszubauen; im Herbst 1958 nahm es dort in einem Neubau seine Arbeit auf. Nach dem Umzug firmierte das Institut unter dem Namen MPI für Physik und Astrophysik mit den Direktoren Heisenberg und Biermann. Entsprechend Heisenbergs Konzept wurde 1960 das ebenfalls in Garching angesiedelte und aus einer 1956 gegründeten Abteilung des MPI für Physik hervorgegangene MPI für Plasmaphysik unter Arnulf Schlüter (1922–2011) gegründet, das sich der Fusionsforschung widmete.292

Im Frühjahr 1948 wurde für Karl Friedrich Bonhoeffer (1899–1957) eine Abteilung am KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin eingerichtet und dieser im Dezember 1948 zum Direktor des Instituts bestellt. Doch schon 1949 folgte Bonhoeffer dem Ruf als Direktor an das inzwischen neu gegründete MPI für physikalische Chemie in Göttingen. In der Übergangsphase, in der Bonhoeffer beide Institute leitete,293 holte er den Miterfinder des Elektronenmikroskops Ernst Ruska (1906–1988) als Leiter einer Abteilung für Elektronenmikroskopie an das Institut, die dieser neben seiner Tätigkeit bei der Firma Siemens aufbauen sollte, um Grundlagenforschung für die Weiterentwicklung von Elektronenmikroskopen zu betreiben. 1951 wurde der inzwischen 71-jährige Max von Laue Direktor des Berliner Instituts und läutete eine neue Phase der Konsolidierung ein. Ihm gelang auch 1953 die offizielle Eingliederung des Instituts in die Max-Planck-Gesellschaft, zugleich mit der Umbenennung in Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft. 1957 wurde Ruskas Abteilung Elektronenmikroskopie zu einem eigenständigen Institut unter der Bezeichnung Institut für Elektronenmikroskopie am Fritz-Haber-Institut umgewandelt.294

Demokratisierung: Mainauer Kundgebung und Göttinger Erklärung

Die Max-Planck-Gesellschaft fügte sich, wie bereits ausgeführt, immer mehr in das föderative Staatswesen der Bundesrepublik Deutschland ein und entwickelte zugleich demokratische Strukturen. Im Selbstverständnis der Max-Planck-Gesellschaft stand stets die Sicherung der Autonomie der Grundlagenforschung im Vordergrund, doch gab es auch Raum für Diskussionen um die gesellschaftliche Verantwortung und wirtschaftliche Bedeutung der Forschung.

Kernphysikalische Forschungen waren von den Alliierten untersagt. Dennoch versuchten die Wissenschaftler um Heisenberg schon frühzeitig, dieses Verbot zu umgehen. Bereits im Dezember 1949 hatte ein Gespräch zwischen Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967), Hahn und Heisenberg über die Aufgaben eines künftigen bundesdeutschen Forschungsrats stattgefunden. Obwohl auch in Deutschland viele Menschen mit Sorge die internationale Rüstungsentwicklung betrachteten, war man in erster Linie mit dem Wiederaufbau des Landes beschäftigt. Insofern berührte die beginnende internationale Protestwelle die Bundesrepublik Deutschland bis zur Unterzeichnung der Pariser Verträge im Oktober 1954 zunächst wenig. Noch 1953 vertrat Hahn die unter seinen deutschen Kollegen verbreitete Auffassung, dass Proteste und Aufrufe nichts nützen, da die Politik sich offenbar darüber hinwegsetze295 – eine Auffassung, die er bald ändern sollte. Nachdem Adenauer mit der Bitte an Heisenberg herangetreten war, sich nicht vor der Ratifizierung der Pariser Verträge in der Öffentlichkeit zu Atomfragen zu äußern,296 veröffentlichte Hahn im Frühjahr 1955 eine Broschüre unter dem Titel „Cobalt 60 – Gefahr oder Hoffnung?“297 Die Resonanz in der Öffentlichkeit – auch im Ausland – war groß. Zusammen mit Born, Heisenberg und Weizsäcker entschloss sich Hahn daraufhin, die seit 1951 alljährlich stattfindende Lindauer Tagung der Nobelpreisträger zu nutzen, um einen Aufruf gegen militärische und für friedliche Nutzung der Atomenergie zu starten. Es gelang ihm, alle 16 in Lindau anwesenden Nobelpreisträger zur Unterschrift zu bewegen.298 Mit Datum vom 15. Juli 1955 wurde das Dokument als Mainauer Kundgebung der Presse übergeben; ein Jahr später lagen die Unterschriften von 51 Nobelpreisträgern vor.

Abb. 1.8: Otto Hahn und der Bundesminister für Atomfragen Franz Josef Strauß am 1. Oktober 1956 auf einer außerordentlichen Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses, auf der es um den Ausbau der Kernforschung an (West-)Berlins Universitäten sowie die Gründung eines Instituts für Kernforschung ging. Hahn referierte über „Die Bedeutung der friedlichen Nutzung der Kernenergie für die Zukunft“.

Abb. 1.8: Otto Hahn und der Bundesminister für Atomfragen Franz Josef Strauß am 1. Oktober 1956 auf einer außerordentlichen Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses, auf der es um den Ausbau der Kernforschung an (West-)Berlins Universitäten sowie die Gründung eines Instituts für Kernforschung ging. Hahn referierte über „Die Bedeutung der friedlichen Nutzung der Kernenergie für die Zukunft“.

Ende 1956 zeigte sich der Arbeitskreis „Kernphysik“ beim damaligen Bundesministerium für Atomfragen tief beunruhigt über das Bestreben der Bundesregierung, Verfügungsgewalt über Atomwaffen zu erlangen und schrieb einen Brief an den Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß (1915–1988).299 Nach einer gemeinsamen Besprechung mit Strauß im Januar 1957 einigte man sich darauf, zunächst noch nicht an die Öffentlichkeit zu treten.300 Doch Adenauers Erklärungen vor der Presse im April 1957 zur geplanten Atombewaffnung der Bundeswehr und die dabei erfolgte Gleichsetzung von taktischen Atomwaffen mit konventionellen Waffen veranlassten die Wissenschaftler – allen voran Hahn und von Weizsäcker – erneut das Wort zu ergreifen. Am 12. April 1957 wurde die Göttinger Erklärung der Öffentlichkeit übergeben.301 Wichtige Aspekte der Göttinger Erklärung waren das Eintreten der Unterzeichner gegen eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr; zudem machten sie die Gefahren von Atomwaffen deutlich und erklärten, sich nicht an der Herstellung oder Erprobung von Atomwaffen zu beteiligen, gleichzeitig traten sie für Forschungen zur friedlichen Nutzung der Atomenergie ein. Die Bundesregierung – allen voran der Verteidigungsminister – reagierte empört. Von den 18 deutschen Atomwissenschaftlern, die die Göttinger Erklärung unterzeichnet hatten, gehörten sechs zu der Gruppe der 1945 in Farm Hall internierten Wissenschaftler. Auch alle anderen Unterzeichner waren in der einen oder anderen Weise mit dem deutschen Uranprojekt und untereinander verbunden gewesen302: Zehn der Unterzeichner waren (Auswärtige) Wissenschaftliche Mitglieder der Max-Planck-Gesellschaft, davon vier Senatoren. Dabei betonte Hahn immer wieder – und das gilt auch für die anderen Unterzeichner entsprechend –, dass er nicht als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft agiere, sondern als unabhängiger Wissenschaftler.