Sievertsen, Uwe (2014). Bauwissen im Alten Orient. In: Wissensgeschichte der Architektur: Band I: Vom Neolithikum bis zum Alten Orient. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.
3.1 Einleitung
3.1.1 Naturräumliche Bedingungen
Das Bauen im Alten Orient (Abb. 3.2) ist in starkem Maße von den teilweise sehr unterschiedlichen naturräumlichen Bedingungen innerhalb der Großregion geprägt.1 So sind Steine und Bauhölzer im mesopotamischen Alluvium zu allen Zeiten nur in eingeschränktem Maße verfügbar gewesen. Leicht zugänglich und kostengünstig waren hingegen die Baustoffe Lehm und Schilf. Dadurch hat sich insbesondere die Lehmziegelbauweise im Zweistromland schon früh zu einer bevorzugten und auch heute immer noch weit verbreiteten Bauweise (Abb. 3.1) entwickeln können.2
Schilfbauten, die sich von solchen auf altorientalischen Bilddarstellungen kaum unterscheiden, sind bis in die Gegenwart vor allem in den unzugänglichen Sumpflandschaften am Zusammenfluss von Euphrat und Tigris anzutreffen (Abb. 3.3).3 In Nordmesopotamien und den westlich des mittleren Euphrats gelegenen Gebieten Syriens sind hingegen in stärkerem Maße zum Bauen geeignete Steine vorhanden, weshalb in jenen Gegenden neben der reinen Lehmziegelbauweise häufiger auch das Bauen unter Verwendung von Steinen, insbesondere im Fundament- und Sockelbereich der Mauern, anzutreffen ist.4
3.1.2 Historischer Rahmen und Gesellschaftsstrukturen
Grundsätzlich ist bei einer Betrachtung des altorientalischen Bauwesens zu berücksichtigen, dass es – selbst wenn man sich auf die vorderasiatischen Kernlandschaften Mesopotamien und Syrien beschränkt – nicht nur räumlich ein sehr großes Gebiet mit unterschiedlichen regionalen Prägungen einschließt. Auch in zeitlicher Hinsicht verbindet sich mit dem altorientalischen Bauwesen ein vielschichtiger, mehrere Jahrtausende umspannender Prozess (Tab. 3.1).
Das 4. Jahrtausend v. Chr. etwa ist, nachdem es über lange Zeit nur dörfliche Ansiedlungen und allenfalls etwas größere Zentralorte gegeben hat, in Süd- und Nordmesopotamien durch die Entstehung der ersten Städte mit deutlich ausgeprägten sozialen Hierarchien gekennzeichnet.5 Aus der veränderten Situation ergaben sich zahlreiche neue Bauaufgaben sowohl im Bereich der Wohn-6 wie auch der öffentlichen Architektur7.
Ubaidzeit
(5. Jt. v. Chr.)
Urukzeit
(4. Jt. v. Chr.)
Frühdynastische Zeit
(Anfang bis Mitte des 3. Jt. v. Chr.)
Akkadzeit
(24.–22. Jh. v. Chr.)
Ur III-Zeit
(spätes 22.–21. Jh. v. Chr.)
Isin-Larsa-Zeit
(ausgehendes 3. bis frühes 2. Jt. v. Chr.)
Erste Dynastie von Babylon
(1894–1595 v. Chr.)
Kassitische Zeit
(16.–12. Jh. v. Chr.)
Mittani-Zeit
(Mitte des 2. Jt. v. Chr.)
Mittelassyrische Zeit
(15.–11. Jh. v. Chr.)
Neubabylonische Zeit
(frühes 1. Jt. v. Chr.)
Neuassyrische Zeit
(10.–7. Jh. v. Chr.)
Spätbabylonische Zeit
(spätes 7.–6. Jh. v. Chr.)
Achämenidenzeit
(6.–4. Jh. v. Chr.)
Seleukidenzeit
(4.–2. Jh. v. Chr.)
Tab. 3.1: Chronologische Übersicht zum Alten Orient.
Tab. 3.1: Chronologische Übersicht zum Alten Orient.
Schon bald entwickelten sich aus den städtischen Zentren kleinere Stadtstaaten, gekennzeichnet durch ein Wirtschaftssystem aus autonomen Tempel-, Palast- und Privathaushalten, und schließlich im späteren Verlauf des 3. Jahrtausend v. Chr. die ersten größeren Territorialstaaten, das Reich von Akkade sowie der Beamtenstaat der 3. Dynastie von Ur.8 Die zunehmende Erweiterung des geographischen Horizonts und der politischen Handlungsspielräume in jenen Jahrhunderten spiegelt sich in der in unterschiedlichen Quellen überlieferten Ausstattung der wichtigsten Heiligtümer mit Architekturelementen und Inventar aus exotischen, über große Entfernungen heran transportierten Materialien wider.9
Immer wieder folgten jedoch auch längere Perioden, in denen mehrere etwa gleich starke Zentren um die Macht konkurrierten, wie etwa während der Isin-Larsa-Zeit im frühen 2. Jahrtausend v. Chr., bis es dann schließlich einzelnen Dynastien gelang, erneut die Kontrolle über größere Teile des Zweistromlands und bisweilen auch angrenzende Gebiete an sich zu reißen. Als Beispiele solcher Oberherrschaften seien für die 1. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. das Reich Hammurapis von Babylon (1792–1750 v. Chr.)10 und für die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. der obermesopotamische Mittani-Staat angeführt.11
Das neuassyrische Großreich, dessen gewaltige Städtebauprojekte nur mit Hilfe des Einsatzes Tausender Kriegsgefangener und Deportierter aus den unterworfenen Gebieten realisiert werden konnten, erstreckte sich in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. zeitweise vom assyrischen Kernland bis nach Südostanatolien, an den Persischen Golf und in die südliche Levante. Im späten 7. Jahrhundert v. Chr. fiel es dem gemeinsamen Vorstoß der Meder und Babylonier zum Opfer.12
Die durch die schriftlichen und archäologischen Quellen bezeugten Blütephasen einzelner Stadtfürstentümer, Reiche und Großreiche wie auch die meist weniger gut dokumentierten Verfallszeiten haben im stark von wirtschaftlichen Faktoren geprägten Bauwesen sehr häufig ihren unmittelbaren Niederschlag gefunden. So wird bspw. deutlich, dass gerade in Zeiten schwacher Zentralgewalt, ungeklärter Machtverhältnisse und politischer Wirren die Verantwortung für die Instandhaltung und den Wiederaufbau der Heiligtümer vielfach vom König auf die lokalen Autoritäten überging. Bauinschriften, die dies erweisen, liegen insbesondere für Babylonien aus den ersten Jahrhunderten des 1. Jahrtausends v. Chr. vor.13
3.1.3 Standard-Bauaufgaben und besondere Architekturleistungen
Dass dem Bauwesen in den altorientalischen Kulturen eine prioritäre Bedeutung zugekommen ist, bezeugen nicht zuletzt die zahlreichen Darstellungen von Bauten und Baumaßnahmen in der Bildkunst etwa der frühsumerischen Kultur des späten 4. Jahrtausends v. Chr. (Abb. 3.4) oder der neuassyrischen Zeit (Abb. 3.27, 3.28, 3.29, 3.30).14
Abb. 3.4: Siegelabrollung mit Wiedergabe von Pfeiler-Nischen-Architektur aus Uruk/Urukzeit (Nöldeke et.al. 1934, Tf. 22a).
Abb. 3.4: Siegelabrollung mit Wiedergabe von Pfeiler-Nischen-Architektur aus Uruk/Urukzeit (Nöldeke et.al. 1934, Tf. 22a).
Die Standard-Bauaufgaben des altorientalischen Bauwesens schließen zunächst den privaten, teilweise auch von staatlichen Institutionen
betriebenen Hausbau ein, der allerdings erst in den letzten dreißig Jahren stärker in den Blickpunkt der archäologischen Forschung gerückt ist.15
Hinzu tritt weiterhin im Bereich der öffentlichen Architektur der Sakral-, d. h. Tempel- und Zikkurratbau.16 Hierbei ist zu beachten, dass das Gotteshaus im Alten Orient durchaus im wörtlichen Sinne als irdischer Wohnsitz der Gottheit verstanden wurde. Den Tempel galt es so auszustatten, dass der Gott sich dort dauerhaft einrichten und dem Herrscher, seiner Stadt und seinem Land entsprechende Gunst erweisen konnte.17 Namentlich die mesopotamischen Hochterrassen und Stufentürme, deren Anfänge bis in die Ubaidzeit des 5. Jahrtausends v. Chr. (Abb. 3.51) zurückreichen und die nach frühen Höhepunkten im 4. Jahrtausend v. Chr. (Abb. 3.5) schließlich in so berühmten Bauwerken wie der Zikkurrat von Ur (Abb. 3.23) oder dem babylonischen Turm (Abb. 3.24) gipfeln sollten, stellen eine spezifische Architekturleistung der altorientalischen Zeit dar.18
Von großer Relevanz, die im Laufe der Jahrhunderte beständig zunahm, war ebenfalls der Palastbau, über den wir, abgesehen von Baubefunden etwa aus dem altbabylonischen Mari (Abb. 3.48) oder dem mittelsyrischen Ugarit, vornehmlich durch assyrische Baudenkmäler und Textquellen des 2. und 1. Jahrtausends v. Chr. (Abb. 3.26, 3.31) recht gut unterrichtet sind.19 Ferner sind unter den besonderen Bauleistungen des Alten Orients noch die von einem hohen Stand des Ingenieurwissens kündenden neuassyrischen Wasserbauten (Abb. 3.35; Abb. 3.46) zu nennen.20
3.1.4 Methodische Einschränkung
Es sei betont, dass eine umfassende Studie zum altorientalischen Bauwesen bislang noch nicht verfügbar ist.21 Die hier durchgeführte Quellenanalyse muss sich deshalb prinzipiell darauf beschränken, einzelne Schlaglichter auf das Architekturwissen in Mesopotamien, wie es sich an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten greifen lässt, zu werfen. Einige relativ gut dokumentierte Perioden wie die Urukzeit, die Ur III-Zeit, die neuassyrische und die spätbabylonische Zeit werden dabei stärker im Mittelpunkt stehen als andere, weniger gut dokumentierte oder auch im vorliegenden Band gesondert in Fokussen behandelte wie die altbabylonische Zeit. Wo immer es darum geht, aus den im Folgenden referierten Einzelbeobachtungen allgemeinere Schlussfolgerungen zum altorientalischen Architekturwissen abzuleiten, ist aufgrund der angesprochenen, je nach Region und Epoche bisweilen stark voneinander abweichenden naturräumlichen und historischen Voraussetzungen äußerste Zurückhaltung geboten.22
3.2 Wissensbegriff
3.2.1 Religiöser Hintergrund
In altorientalischer Zeit schrieb man dem das Bauwesen betreffenden Wissen göttliche Herkunft zu. Schon in dem sumerischen Mythos „Inanna und Enki“ rechnet das Handwerk des Baumeisters zu den me, d. h. den „göttlichen Kräften“. Und auch in den Babyloniaka des Berossos heißt es, dass der vorsintflutliche Weise Oannes (Adapa) der Menschheit die Kunst gelehrt habe, Tempel und Städte zu bauen.23
Zum geistesgeschichtlichen und religiösen Hintergrund des Bauens im Alten Orient liegt eine Vielzahl von Textzeugnissen und archäologischen Quellen vor. Wichtig sind insbesondere Baurituale und Bauopfer, die die Einbindung der Bauvorgänge in eine von magischen Vorstellungen geprägte altorientalische Gedankenwelt, die uns heute auf den ersten Blick irrational erscheint, widerspiegeln. Bspw. wurden Termine für den Beginn einzelner Bauvorhaben durch die Konsultation von Omenserien oder durch eine Opferschau festgelegt, wie überhaupt der Divination im Bauwesen eine entscheidende Rolle zugekommen ist.24
Die Bauritualtexte aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. sind unlängst ausführlich von C. Ambos behandelt worden. Ihr Quellenbestand hat sich in den letzten Jahrzehnten bedeutend erweitert, so dass Zeugnisse mittlerweile aus einer Reihe süd- und nordmesopotamischer Fundorte bekannt sind. Neben den späten Textvertretern gibt es vereinzelt aber auch älteres, präsargonisches, gudeazeitliches und altbabylonisches Belegmaterial aus dem 3. und 2. Jahrtausend v. Chr., das die lange Tradition der Textgattung und der mit ihr verbundenen magischen Handlungen veranschaulicht.25
Die archäologischen Befunde bestehen in Mesopotamien vornehmlich aus Bauopfern bzw. Gründungsdepots. Eine eingehende Untersuchung hierzu ist von R. S. Ellis 1968 veröffentlicht worden. Ellis bevorzugt allerdings den umfassenderen Begriff „Baudepots“, da die Hinterlegungen zuweilen auch in höhergelegenen Gebäudeteilen als den Fundamentbereichen erfolgen konnten. Erste Beispiele treten spätestens ab der Urukzeit im 4. Jahrtausend v. Chr. auf. Von da an sind Baudepots bis an das Ende der altorientalischen Zeit bezeugt. Sie dienten u. a. als Zeichen der besonderen Wertschätzung und Weihe eines Bauwerks, sollten aber auch seinen magischen Schutz sicherstellen und, vor allem in den späteren Epochen, bei Göttern und Nachwelt die Erinnerung an den Namen des Bauherrn wach halten.26
Die Baudepots sind im Kontext von Bauriten zu sehen, über die wir zum einen durch die Bauritualtexte, daneben aber auch durch andere Schriftquellen, darunter v. a. königliche Bauinschriften, informiert sind. Unter den Bauinschriften ist neben den teilweise sehr ausführlichen Zeugnissen aus neuassyrischer und spätbabylonischer Zeit als frühes, mannigfaltige Hinweise auf Bauriten enthaltendes Textbeispiel die auf zwei großen Tonzylindern erhaltene Tempelbauhymne des Gudea von Lagaš aus dem späten 3. Jahrtausend v. Chr. (Abb. 3.6) zu nennen.27
In seiner Arbeit zu den Ritualtexten erörtert Ambos sehr detailliert die zeitliche Abfolge der Rituale im Verhältnis zu den verschiedenen aufeinander folgenden Bauphasen.28 Für die Standfestigkeit einer Konstruktion und das Gelingen einer Baumaßnahme waren die Gunst und Mitwirkung der Götter unerlässlich. Dies betrifft grundsätzlich alle mesopotamischen Bauprojekte, also auch den Haus- und Palastbau29, doch liegt besonders ergiebiges Quellenmaterial für den Bau bzw. die Wiederherstellung und die kultische Einrichtung von Tempeln vor.30
Zunächst wurde von der Gottheit selbst der Zeitpunkt für die Restaurierung eines verfallenen Tempels festgelegt. Ein Opferschauer führte eine Eingeweideschau (bīru31) durch, um die göttliche Zustimmung für die geplante Baumaßnahme einzuholen. Der assyrische König Asarhaddon (680–669 v. Chr.) erwähnt bspw., dass er das Ešarra, das Hauptheiligtum des Gottes Assur in gleichnamiger Stadt, erst renoviert habe, nachdem er mittels einer Opferschau einen positiven Bescheid durch Šamaš und Adad, die Götter der Opferschau, erhalten hatte. Von dem akkadzeitlichen Herrscher Naramsin (2254–2218 v. Chr.) heißt es dagegen in der sumerischen Dichtung „Fluch über Akkade“, dass er sich wissentlich über zwei Opferschaubefunde hinweggesetzt habe, denen zufolge die Renovierung des Heiligtums Ekur in Nippur von der Gottheit Enlil unerwünscht war.32
Mehrfach bezeugt ist ebenfalls, dass dem Herrscher der Auftrag für die Wiederherstellung eines Tempels von der Gottheit in einem Traumgesicht erteilt wurde. Bekannte Beispiele hierfür stellen Gudea von Lagaš und der spätbabylonische Herrscher Nabonid (555–539 v. Chr.) dar.33
Texte und Ausgrabungsbefunde zeigen, dass speziell bei Tempelbauten kultische Reinigungen des Baugrundes vorgenommen worden sind, die u. a. im Erdreich verborgenen Gräbern gegolten haben werden. Einen archäologischen Beleg bildet der älteste Bauzustand des frühdynastischen Tempelovals von Hafaği aus der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr., ein wichtiges Schriftzeugnis einmal mehr der Baubericht des Gudea von Lagaš über die Errichtung des Eninnu in Girsu.34
War ein zu restaurierendes Gebäude schwer beschädigt, musste es bis auf die Grundmauern abgetragen werden. Insbesondere bei Sakralbauten bemühte man sich jedoch darum, die Kontinuität des – der altmesopotamischen Vorstellung nach zu Urzeiten von den Göttern selbst errichteten – Bauwerks nicht abreißen zu lassen.35 So oblag es dem Baumeister, aus den Trümmern des Altbaus einen „früheren Ziegel“ (libittu maḫrītu) zu bergen, über dem anschließend, unter Rezitation einer Beschwörung, die den Bau des uranfänglichen Tempels durch die Götter schildert, ein Opfer aus Milch, Bier, Wein usf. dargebracht worden ist.
Dass man zuweilen erhebliche Anstrengungen unternommen hat, die alten Fundamente aufzudecken, um neue Mauern möglichst exakt daran zu orientieren, und hierbei fast schon archäologisch vorging, belegen die Inschriften der spätbabylonischen Herrscher. Nabonid etwa rühmt sich der Freilegung sehr alter Fundamente Naramsins von Akkade im Zuge von Instandsetzungsarbeiten am Ebabbar von Sippar. Diese hätte sein Vorgänger Nebukadnezar II. (604–562 v. Chr.) bei seinen Bauaktivitäten noch übersehen und deshalb nicht einbezogen. Den vorzeitigen Verfall des von Nebukadnezar restaurierten Heiligtums führt Nabonid darauf zurück, dass die Renovierung aus eben jenem Grund der Gottheit nicht zugesagt habe.36
Auch die Ausgrabungsbefunde an Tempeln lassen erkennen, dass die Mauern aus späteren Bauzuständen häufig unter nur geringen Modifikationen auf denjenigen der Vorgänger errichtet worden sind, was zur Folge hatte, dass sich die Grundrisse in jenen Fällen sehr langsam wandelten. Ein anschauliches Beispiel bildet der Sin-Tempel von Hafaği aus der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr.37 Allerdings gibt es auch Gegenbeispiele wie den zwischen frühdynastischer und Akkadzeit immer wieder grundlegend umgestalteten Abu-Tempel von Ešnunna38 oder den nach seiner Errichtung in der Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. mehrfach stark veränderten Ištar-Tempel von Assur39. Diese und andere Befunde zeigen, dass sich die angestrebte Kontinuität im Sakralbau zuweilen auf wenig mehr als die generelle Beibehaltung des alten Bauplatzes reduzieren konnte.40
Einen wichtigen Bestandteil der Rituale, die mit der Freilegung der alten Fundamente einhergingen, stellten Opfer und Gebete an die Unterweltsgottheiten dar, da die Erdarbeiten von diesen als Störung empfunden werden konnten. Gefahr drohte insbesondere, wenn man auf alte Gründungsbeigaben stieß, weshalb diese gegebenenfalls wie bedrohliche materia magica unschädlich gemacht werden mussten. Von Bauurkunden, die der Nachwelt den Namen eines Bauherrn mitteilen sollten, ging demgegenüber keine magische Wirkung aus.41
Weitere rituelle Handlungen wurden bei der Vorbereitung der Baumaterialien vollzogen. So erfährt man von dem neuassyrischen Herrscher Sargon II. (722–705 v. Chr.), dass er in Verbindung mit der Ziegelherstellung Opfer für den Ziegelgott Kulla – die deifizierte Verkörperung des Lehmziegels und zugleich ein Sohn des Weisheitsgottes Enki – und für Mušda(ma), den „großen Baumeister des Enlil“ (šitimgallu ša Enlil), angeordnet und dazu ein Gebet gesprochen hat.42 Zudem trug man allgemein Sorge, nur solche Baustoffe zu verwenden, die im magischen Sinne unbedenklich waren.43
Wie schon die – bei einem kompletten Neubau natürlich nicht erforderliche – Aufdeckung der alten Fundamente war auch die Anlage neuer Gründungen von Bauritualen begleitet. In den neuen Fundamenten wurden Gründungsbeigaben in Form von Steinen, Metallen, Kräutern, Hölzern, Flüssigkeiten, Getreidekörnern oder Textilien zurückgelassen. Substanzen wie Getreidekörner oder Stoffstücke hat man z. T. einfach über die Fundamentgräben verstreut. Bei Ausgrabungen sind daneben aber vielfach sowohl im Fundamentbereich wie auch im aufgehenden Mauerwerk größere Ansammlungen von Gründungsbeigaben entdeckt worden. Hierunter befinden sich z. B. Tieropfer, nagelförmige, dabei häufig partiell figürlich gestaltete Objekte (Abb. 3.7), Tafeln aus mitunter sehr wertvollen Materialien sowie tönerne Zylinder und Prismen.44 Vornehmlich sind derartige Baudepots, die gleichfalls in den Schriftquellen erwähnt werden, für Tempel, Paläste und Stadtmauern45 bezeugt. Sehr aufwendige Beispiele kommen etwa aus dem Ištar-Tempel des mittelassyrischen Herrschers Tukulti-Ninurta I. (1233–1197 v. Chr.) in Assur.46
Da es für den Herrscher von großer Bedeutung war, seinen Namen und seine Taten zukünftigen Generationen zu überliefern, stellen die Funde aus den Depots oft königliche Bauurkunden dar. Hohe Beamte und lokale Würdenträger haben bisweilen ebenfalls entsprechende Urkunden hinterlegt. Nach ihrer Auffindung bei Renovierungsarbeiten sind die Texte zusammen mit den neuen Inschriften wieder an ihren Platz zurückgelegt worden.47
Ein zentrales Geschehen bei der Anlage der Fundamente war die Herstellung des ersten Ziegels durch den Herrscher. Auch hier gibt es einen früheren Beleg der Zeremonie im Bericht des Gudea von Lagaš über die Arbeiten am Eninnu. Man erfährt, dass Gudea den ersten Ziegel gestrichen und ihm kostbare Essenzen und Öl beigemischt hat. Anschließend hat er den Ziegel zur Tempelbaustelle getragen.48 Aus neuassyrischer Zeit gibt es eine ähnliche Schilderung von Asarhaddon, der zufolge der erste Ziegel (libittu maḫrītu) nach der Hinterlegung der Gründungsurkunden und -beigaben versetzt worden ist. Am Ende der Fundamentarbeiten stand ein Reinigungsritual.49
Rituale begleiteten ferner die Anbringung der Türen und offenbar auch die Errichtung des Daches. Nach der Fertigstellung eines Wohnhauses wurde ein umfassendes Reinigungsritual durchgeführt, das einem Exorzismus gleichkam und in dessen Verlauf die Baumeistergötter Kulla und Mušda(ma) die Baustelle verließen. Ähnlich wurden auch Heiligtümer vor dem Einzug der Gottheit einer kultischen Reinigung unterzogen. Einen Nachweis hierfür liefert wieder die Zylinderinschrift des Gudea, wobei die Reinigung des Eninnu dort von den Göttern selbst vorgenommen wird.50
Als Schutz gegen böse Dämonen hat man sowohl beim Bau eines Hauses, Palasts oder Tempels als auch später noch, insbesondere anlässlich besonderer Ereignisse wie Todesfällen oder Krankheiten, apotropäische Figuren verscharrt bzw. magische Zeichnungen an den Wänden angebracht. Gefährdete Punkte bildeten v. a. Durchgänge und Fenster. Häufig wurden übelabwehrende Figuren bei Ausgrabungen unter den Fußböden entdeckt. In den neuassyrischen Palästen sind sie zudem auf Orthostatenreliefs, mit denen die Wandsockel verkleidet waren, abgebildet worden.51
Den Abschluss königlicher Bauprojekte bildeten große Feste, zu denen uns verschiedene archäologische und inschriftliche Hinweise vorliegen. Die Darstellung des Herrschers als Ziegelkorbträger in Verbindung mit einer Bankettszene (Abb. 3.8) bezeugt offenbar bereits für den frühdynastischen Stadtfürsten Urnanše von Lagaš aus der Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. die Durchführung von Inaugurationsfeiern im Gefolge von Baumaßnahmen.52 Auch Gudea widmet der Einweihung des Eninnu, an der Menschen und Götter teilnehmen und die Festmähler sowie Segnungen des Bauwerks und seines Bauherrn einschließt, eine ausführliche Schilderung.53
Die berühmte, wenn auch stark fragmentierte Stele des Ur III-zeitlichen Königs Urnammu (2112–2095 v. Chr.) zeigt den Herrscher zum einen in seiner Eigenschaft als Bauherr mit geschultertem Werkzeug (Abb. 3.9). Zum anderen stellt sie ihn in den zentralen Szenen der oberen Bogenfelder dar, wie er, offenbar nach erfolgreicher Beendigung seines Bauprojekts, vor die Götter tritt, um ihre Benediktionen entgegen zu nehmen. Wiedergaben von Tierschlachtungen und Musikanten auf der Stelenrückseite sind im Kontext von Festhandlungen zu sehen. Das zweigliedrige Schema aus Bauarbeiten und abschließenden Feierlichkeiten sowie Segnungen durch die Götter scheint mithin in allen drei genannten Beispielen grundsätzlich dasselbe gewesen zu sein.54
Nachrichten über große Feste im Anschluss an königliche Bauunternehmungen liegen gleichfalls aus neuassyrischer Zeit vor. So erfährt man, dass Assurnasirpal II. (883–859 v. Chr.) zur Einweihung seiner neuen Residenz in Kalhu die Götter Assyriens und annähernd 70.000 Menschen aus allen Teilen des Assyrerreiches zu einem zehntägigen Fest eingeladen hat.55 Mit ähnlichen Feiern endeten auch die Bauarbeiten Sanheribs (704–681 v. Chr.) an seinem Königspalast in Ninive und Asarhaddons am Assur-Tempel Ešarra.56
Abb. 3.9: Rekonstruktion der Vorder- und Rückseite der Stele des Urnammu aus Ur/Ur III-Zeit (Becker 1985, Abb. 6).
Abb. 3.9: Rekonstruktion der Vorder- und Rückseite der Stele des Urnammu aus Ur/Ur III-Zeit (Becker 1985, Abb. 6).
Insgesamt lassen die Quellen erkennen, dass im Verständnis der altorientalischen Zeit der Erfolg einer Baumaßnahme gleichermaßen von den technischen Fertigkeiten der Baumeister wie von der Mitwirkung kundiger Ritualexperten abhing, die sicherzustellen hatten, dass die Arbeiten unter dem Schutz und Beistand der Götter durchgeführt werden konnten. Ihre Aufgabe bestand allerdings nicht darin, etwaige handwerkliche Unzulänglichkeiten der Konstruktion auszugleichen.57
3.2.2 Umgang mit ungünstig verlaufenen Bauprojekten
Über ungünstig verlaufene oder gescheiterte Bauprojekte liegen aus den altorientalischen Texten, insbesondere den offiziellen Inschriften der Herrscher, kaum direkte Nachrichten vor, sieht man einmal von den Bestimmungen in den §§ 229–233 des Codex Hammurapi ab, die den Haftungsumfang von Baumeistern bei durch ihr Verschulden eingetretenen Tötungen und Schäden regeln.58
Vielleicht spielte hierbei auch religiöse Scheu eine Rolle, da zumindest im Bereich des Sakralbaus der im altorientalischen Verständnis durch göttlichen Zorn ausgelöste Einsturz eines Tempels und der damit einhergehende Auszug der Gottheit aus ihrem Heiligtum eine Unterbrechung des regulären Kults bedeuteten, die viele Gefahren mit sich brachte. Im Extremfall konnte sogar ein das ganze Land betreffender Ausnahmezustand, etwa durch Ernteausfälle, eindringende Feinde usf. eintreten. Lieber als über die unbehagliche Tatsache des Auszugs nach einem Schaden sprach man deshalb über den freudigen Wiedereinzug der Götter in ihre restaurierten Heiligtümer. Den Tempelbauritualen fiel die Aufgabe zu, in ihrer Eigenschaft als Übergangsrituale die geordnete Rückführung in den idealisierten Zustand vor Eintritt des Schadens, zum Ausdruck gebracht durch das Bild des Tempels als Wohnsitz der göttlichen Herzensfreude, sicherzustellen.59
Allenfalls noch lassen sich im vorliegenden Zusammenhang Texte wie die oben schon erwähnte Inschrift des Nabonid anführen, in der dieser den raschen Verfall des Ebabbar in Sippar nach der Renovierung Nebukadnezars II. damit begründet, dass es seinem Vorgänger nicht gelungen sei, die ältesten Fundamente des Heiligtums aufzudecken. Die Instandsetzung habe infolgedessen nicht in einer die Gottheit vollauf befriedigenden Weise durchgeführt werden können.60
Gelegentlich werden in den Bauinschriften darüber hinaus begonnene, dann aber wieder unterbrochene Bauprojekte angesprochen, die nach der unfreiwilligen Zäsur schließlich doch noch zu einem glücklichen Ende geführt worden sind. Einen Beleg hierfür stellen die inschriftlich und archäologisch dokumentierten Baumaßnahmen am Anu-Adad-Tempel von Assur unter den mittelassyrischen Herrschern Assur-dan I. (1168–1133 v. Chr.), Assur-reša-iši I. (1132–1115 v. Chr.) und Tiglatpilesar I. (1114–1076 v.Chr.) dar.61 Ausschließlich archäologisch ist die Unterbrechung eines Bauprojekts ferner durch die ältesten, ins frühe 2. Jahrtausend v. Chr. datierenden Baureste des Alten Palastes in Assur, bestehend aus „Urplan“ (Abb. 3.16) und „Lehmziegelfundamentplan“, bezeugt.62
Einen sehr interessanten Befund bilden ebenfalls die unten im Abschnitt zur Bauplanung näher behandelten Fundamentkonstruktionen in dem mittel- bis spätbronzezeitlich (ca. 18.–14. Jh. v. Chr.) datierenden Königspalast von Qatna in Westsyrien (Abb. 3.17). Sie lassen erkennen, dass es noch während der Errichtung des Palasts zu Planänderungen gekommen ist, die einen kurzzeitigen Baustopp und einschneidende Umgestaltungen des Grundrisses nach sich gezogen haben. Inwieweit die Ursachen der Planänderungen technischer oder auch anderer Natur gewesen sind, muss aber noch näher untersucht werden.63 Generell sind die archäologischen Befunde in Vorderasien hinsichtlich der Problematik ungünstig verlaufener Bauprojekte nur bedingt aussagekräftig, da zumindest in Mesopotamien das Gros der Bauten aus altorientalischer Zeit in Lehmziegeltechnik errichtet worden ist. Man findet von diesen Gebäuden vielfach nur noch niedrige Stümpfe vor, an denen sich häufig nicht mehr eindeutig ablesen lässt, ob sie in Gänze ausgeführte oder lediglich begonnene, dann aber – aus welchen Gründen auch immer – abgebrochene Bauprojekte reflektieren, zumal wiederverwendbare Bauelemente wie hölzerne Türen und Dachbalken bei der Aufgabe eines Gebäudes regelmäßig abmontiert und fortgeschafft worden sind. Doch auch Gründungsinschriften liefern nicht durchweg einen sicheren Hinweis auf den tatsächlichen Abschluss eines Bauprojekts, da sie üblicherweise bereits zu Baubeginn bzw. während des Baus deponiert worden sind und damit die Vollendung eines Bauvorhabens antizipieren.64
3.2.3 Nicht angewandtes Wissen
Als ein Beispiel für vorhandenes, aber nicht konsequent angewandtes Wissen lässt sich möglicherweise das assyrische Bauwesen anführen. Auffällig ist nämlich, dass trotz diverser Bausteinvorkommen im Umfeld der assyrischen Hauptstädte und eines entwickelten Steinbaus, speziell im Fundamentbereich, an Kaimauern, Verkleidungen und Pflasterungen, die Lehmziegelarchitektur in Assyrien stets eindeutig vor der Steinarchitektur rangiert hat und ihr dort nahezu die gleiche Bedeutung zugekommen ist wie in Südmesopotamien. Selbst in königlichen Unternehmungen beschränkte sich der Gebrauch von Steinen, sieht man einmal von gewissen, vornehmlich seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. auftretenden levantinischen Einflüssen in der assyrischen Architektur ab, primär auf nachgeordnete Bauteile und Bauten der angesprochenen Art. Bei freistehenden Baustrukturen blieb demgegenüber, wohl auch aufgrund der starken kulturellen Ausstrahlung Babyloniens, die Lehmziegelbauweise bestimmend.65
3.3 Bauverwaltung
3.3.1 Auftragsvergabe
Die Bauauftragsvergabe konnte grundsätzlich durch private und öffentliche Bauherren erfolgen. Insbesondere im ländlichen Milieu wurde der private Hausbau allerdings üblicherweise vom Hausherrn selbst unter Mithilfe von Familienangehörigen und Nachbarn durchgeführt.66 Eine Auftragsvergabe privater Bauherren an ausgebildete Baumeister stellte sicherlich eher die Ausnahme als die Regel dar. Zwar ist die Textbasis abgesehen von den die Tätigkeit der Baumeister betreffenden Bestimmungen der §§ 228–233 des Codex Hammurapi recht spärlich, doch dürfte hier in erster Linie an wohlhabende Stadtbewohner zu denken sein. Diese haben sehr selten, wie bspw. im Fall eines Schreibers aus der Zeit Aššur-uballits I. (1353–1318 v. Chr.), in ihren Häusern auch Bauinschriften hinterlassen.67
Über die Strukturen der öffentlichen Bauverwaltung sind wir aus den altorientalischen Quellen ebenfalls nicht sonderlich gut, aber doch zumindest punktuell unterrichtet. Aussagekräftig sind hauptsächlich sumerische Verwaltungsurkunden aus dem 3. und neuassyrische Briefe aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. Die ab der frühdynastischen Zeit bezeugten offiziellen Bauinschriften der Herrscher hingegen enthalten so gut wie keine die Bauverwaltung betreffenden Hinweise, sondern reflektieren primär die mesopotamische Königsideologie.68
Gemäß dieser Ideologie war es erstes Privileg und oberste Pflicht eines jeden Herrschers, durch seine Taten, darunter nicht zuletzt auch Bauunternehmungen, die Götter zufrieden zu stellen, um auf solche Weise für sich und seine Untertanen göttliches Wohlwollen zu erlangen. Entsprechend treten in den Königsinschriften aller Epochen vom 3. bis zum 1. Jahrtausend v. Chr. zumeist nur der Herrscher selbst als der die Initiative ergreifende Bauherr sowie diverse Gottheiten auf, in deren Namen bzw. Auftrag und unter deren Ägide die einzelnen Projekte durchgeführt worden sind.69
Abb. 3.11: Sitzbild mit Darstellung des Gudea von Lagaš als Baumeister, aus Girsu/Gudeazeit (Sarzec 1884, Tf. 18).
Abb. 3.11: Sitzbild mit Darstellung des Gudea von Lagaš als Baumeister, aus Girsu/Gudeazeit (Sarzec 1884, Tf. 18).
In diesen Kontext gehören auch zahlreiche bildliche Darstellungen des Herrschers als Bauherr. Beliebt war v. a. das Korbträgermotiv, das sich bereits in der Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. bei Urnanše von Lagaš (Abb. 3.8) und auch noch im 1. Jahrtausend v. Chr. bei Assurbanipal (668–631/27? v. Chr.) und seinem in Babylon regierenden Bruder Šamaš-šumu-ukin (Abb. 3.10) findet.70 Hervorzuheben ist weiterhin ein Sitzbild des Gudea von Lagaš aus dem späten 3. Jahrtausend v. Chr. (Abb. 3.11), das den Herrscher mit einer nischengegliederten Grundrisszeichnung, die offenbar die Temenosmauer des Eninnu wiedergeben soll, einem Maßstab und einem Schreibgriffel zeigt.71
Alle übrigen am Bau beteiligten Personen, die mit der Organisation der Bauprojekte betrauten Beamten, die Handwerker und Arbeiter, aber auch die planenden Architekten werden weitgehend ausgeblendet, jedenfalls bleiben sie anonym. Das Gelingen eines Werks hat man stattdessen einmal mehr den Göttern zugeschrieben, so bspw. bestimmten Erscheinungsformen des Weisheitsgottes Enki/Ea.72
Ungeachtet der Darstellungsweise der Inschriften kann man jedoch davon ausgehen, dass in der realen Baupraxis neben dem Herrscher nicht zuletzt die z. T. sehr mächtigen Priesterschaften der großen Heiligtümer immer wieder Einfluss auf die Durchführung der sie unmittelbar betreffenden Bauvorhaben genommen haben werden. Textzeugnisse, die dies näher belegen könnten, liegen aber nur in äußerst begrenztem Umfang vor.73
Zu erwähnen sind hier in erster Linie die Orakelbefragungen bei Baubeginn, wie sie etwa aus der späten neuassyrischen Zeit bekannt sind. Deutlich lassen die Orakel die für das Bauwesen zentrale Bedeutung der in den Händen der Priesterschaft liegenden Divination erkennen. So berichtet Sargon II. (722–705 v. Chr.), der Gott Nabu habe ihn anlässlich der Restaurierung des Tempels von Nabu und Marduk in Ninive per Orakel angewiesen, den Standort seines Heiligtums nicht zu verändern. Von Sargons Sohn und Nachfolger Sanherib (704–681 v. Chr.) erfahren wir, dass er über eine Orakelanfrage die göttliche Erlaubnis erhalten hat, die Ausrichtung einer Tür im Tempel des Assur zu verändern, und auch von Asarhaddon (680–669 v. Chr.) liegen in Zusammenhang mit einer Restaurierung des Assurtempels Nachrichten über an die Götter Šamaš und Assur gerichtete Orakelanfragen vor.74
Außer göttlichen Weisungen haben namentlich die neuassyrischen Herrscher ihre Bautätigkeit aber auch der eigenen Entschlusskraft und Kompetenz zugeschrieben und das Bauen allgemein als probates Mittel zur Selbststilisierung gesehen. Der neuassyrische König präsentiert sich in seinen Inschriften vorzugsweise als diejenige Person, die das gesamte Werk plant und durchführt. Sanherib etwa betont, dass er bei seinem oben erwähnten Umbau des Assurtempels über das göttliche Orakel hinaus von keiner anderen Stelle Rat eingeholt habe.
Dass insbesondere beim Residenzstadt- und Palastbau, denen in neuassyrischer Zeit ein sehr hoher Stellenwert zugekommen ist, durchaus ein starkes persönliches Interesse des Herrschers am Baufortschritt bestanden hat, unterliegt allerdings keinerlei Zweifel und ist auch durch Briefe gut bezeugt. So wissen wir aus rund 40 königlichen Anordnungen, dass Sargon II. sich unmittelbar und sehr massiv in die organisatorischen Abläufe beim Bau seiner neuen Residenzstadt Dur-Šarrukin (Abb. 3.26, 3.31) eingeschaltet hat.75
In welcher Weise nach der einmal gefassten Entscheidung zur Durchführung eines Bauprojekts die jeweiligen Architekten und Bauausführenden bestimmt wurden und wie die konkrete Abstimmung zwischen dem Bauherrn und der Bauleitung zur Realisierung des Vorhabens vonstatten ging, bleibt einstweilen noch weitgehend im Dunkeln, lässt man einmal außer Betracht, dass Tiglatpilesar III. (744–727 v. Chr.) sich in seinen Inschriften damit brüstet, spezialisierten Handwerkern seine Baupläne erläutert zu haben.76 Dokumentiert ist immerhin eine frühzeitige Verständigung mit den Ritualexperten.77 Zudem geben die dezidierten Anordnungen Sargons II. in Dur-Šarrukin einen Fingerzeig, wie die Kommunikation zwischen Herrscher und Bauleuten bisweilen erfolgt sein mag.
Weitere Anhaltspunkte hinsichtlich der wechselseitigen Verständigung von Bauherren, Architekten und Bauleitern liefern die von H. Schmid als Planbeschreibung des spätbabylonischen Tempelturms von Babylon identifizierte sog. Anubelšunu-Tafel und die aus den Angaben der Tafel rekonstruierbare Entwurfszeichnung des Bauwerks, die auf genauer Kenntnis der Situation auf dem Bauplatz und der älteren Baureste beruht haben muss.78 Hierauf soll im Abschnitt zur Bauplanung noch näher eingegangen werden.
Schließlich wird sich die Auswahl der Bauausführenden in vielen Fällen bereits daraus ergeben haben, dass die staatlichen Haushalte in Mesopotamien über eigene, fest an die jeweilige Wirtschaftseinheit gebundene Baumeister und Oberbaumeister verfügten.
3.3.2 Die Bauadministration der Tempel- und Palasthaushalte und privatwirtschaftliche Tätigkeit im Bauwesen
Eine Studie von H. Neumann, die maßgeblich auf einer Auswertung von Textquellen ab der späten Urukzeit bis zur Ur III-Zeit (spätes 4. bis spätes 3. Jt. v. Chr.) beruht, analysiert die administrative Einbindung von Baumeistern in die Bauprojekte großer, überwiegend staatlicher Wirtschaftseinheiten seit der frühsumerischen Zeit sowie erste Hinweise auf eine privatwirtschaftliche Tätigkeit von Baumeistern im späten 3. Jahrtausend v. Chr.79
Früheste Schriftzeugnisse, in denen von Baumeistern (sumerisch: šidim) die Rede ist, stammen aus öffentlichen Haushalten des späten 4. Jahrtausend v. Chr. in Südmesopotamien. Sie dokumentieren die Tätigkeit von Baumeistern im Kontext der urukzeitlichen Oikos-Wirtschaft und haben u. a. den Empfang von Rationen zum Gegenstand. Aus den Schichten IV und III von Eanna, dem Heiligtum der Göttin Inanna in Uruk, sowie aus Ğemdet Nasr liegen Verwaltungsurkunden und lexikalische Listen vor, in denen sich eine ganze Reihe von Nachweisen für die Berufsbezeichnung des Baumeisters findet. Das Zeugnis der Texte besitzt eine Entsprechung im archäologischen Befund des frühsumerischen Uruk mit seinen zahlreichen, vielfach sehr aufwendig gestalteten Monumentalbauten in den beiden großen Sakralbezirken der Stadt (Abb. 3.13, 3.14, 3.19, 3.36, 3.50).80
Die mesopotamische Gesellschaft der frühdynastischen Zeit (Anfang bis Mitte des 3. Jt. v. Chr.) war gemäß I. J. Gelb durch eine Vielzahl in sich weitgehend autarker öffentlicher und privater Haushalte gekennzeichnet.81 Die öffentlichen Haushalte, zu denen die Tempel-, Palast- und Beamtenhaushalte zählten, scheinen dabei im Verlauf des Frühdynastikums die privaten Haushalte der Großfamilien immer stärker in den Hintergrund gedrängt zu haben.82
Frühdynastische Belege der Tätigkeit von Baumeistern, darunter auch solche mit Namensnennung, kommen aus Ur, Fara, Abu Salabih, Girsu, Nippur und Adab. Wieder geht es in den Texten vorrangig um Zuteilungen in Form von Nahrungsmitteln und Wolle. In einigen Fällen sind die Baumeister aber offenbar auch Inhaber von Versorgungsland gewesen. Fernerhin treten sie, manchmal zusammen mit Angehörigen anderer Handwerkszweige, als Empfänger von Arbeitsgeräten und Arbeitsmaterialien auf, die ihnen von den jeweiligen Haushalten ausgehändigt werden.83
Ein sehr instruktiver präsargonischer Text stammt aus Abu Salabih. Er führt, wohl in Zusammenhang mit einer Aufstellung verfügbarer Arbeitskräfte, 142 Baumeister (šidim) bzw. Baufachleute auf, denen 14 Aufseher (ugula) zugeordnet sind. Ganz ähnlich hat man auf der Tafel auch 160 Zimmerleute mit 27 Aufsehern, 40 Schmiede mit 5 Aufsehern, 26 Steinschneider mit 5 Aufsehern sowie 13 „Seiler und Flechter“ mit 4 Aufsehern gelistet.84 Neumann nimmt an, dass es sich bei den aufgeführten Handwerkern um gelernte Arbeitskräfte unterschiedlicher Qualifikation handelt, die gemeinsam anlässlich spezifischer Bau- oder Instandsetzungsarbeiten zum Einsatz gekommen sind, da bei derartigen Projekten für gewöhnlich mehrere Handwerkszweige zusammenwirkten.85
Auch in Texten der Akkadzeit (24.–22. Jh. v. Chr.) werden Baumeister als Empfänger von Gerste- und Bierrationen und als Inhaber von Feldparzellen, die ihnen als Versorgungsland dienten, erwähnt. Aus jener Zeit stammt weiterhin der früheste Beleg der akkadischen Bezeichnung für Baumeister (itinnum). Er findet sich auf einer Tontafel aus dem Dijala-Gebiet.86
Hervorzuheben ist ein Archiv aus der Gruppe A der sog. mu-iti-Texte aus Umma, das von B. R. Foster bearbeitet worden ist. Möglicherweise dokumentiert das Archiv ein größeres öffentliches Bauvorhaben unter einem frühen Akkadeherrscher. Allerdings ist unklar, ob es der Zeit von Sargon (2334–2279 v. Chr.) oder Rimuš (2278–2270 v. Chr.) zuzuordnen ist, und man streitet darüber, ob Festungsbauaktivitäten oder Kanalbauarbeiten den Gegenstand der Texte bilden. Gleichwohl wird deutlich, dass bei den Unternehmungen, an denen einmal mehr Handwerker unterschiedlicher Sparten beteiligt waren, diverse Baumeister zum Einsatz gekommen sind. Für ihre Arbeit hat man ihnen die üblichen Brot- und Gersterationen zugeteilt. In den Texten werden wiederholt 19 Baumeister als Gruppe aufgeführt, denen jeweils 11 Schmiede bzw. 80 Steinarbeiter zur Seite standen.87
Etwas klarer sieht man bei einem weiteren großen öffentlichen Bauprojekt der Akkadzeit. Es handelt sich um den Neubau und die prächtige Ausgestaltung des Ekur, des Heiligtums des Enlil in Nippur, in der Zeit und unter der direkten Verwaltung der Könige Naramsin (2254–2218 v. Chr.) und Šar-kali-šarri (2217–2193 v. Chr.).88 Zu den Bauleuten zählten nach den Texten Handwerker unterschiedlicher Berufsgruppen wie Goldschmiede, Bildhauer, Steinschneider, Zimmerleute und Schmiede. Sie waren zum Teil in Gruppen von bis zu etwa 90 Personen zusammengefasst. Für die Schmiede lässt sich vermutlich eine Gesamtzahl von 150 bis 200 Personen errechnen.
Dass auf keiner einzigen Tafel ein Baumeister erwähnt wird, ist dadurch zu erklären, dass das uns vorliegende Archiv ausschließlich auf Abläufe Bezug nimmt, die die künstlerische Ausgestaltung des Ekur betrafen. Die Texte hatten mithin die Tätigkeit respektive Entlohnung von Handwerkern zum Gegenstand, die im Rahmen des „Handwerkerhauses“ (é-giš-kin-ti) wirkten und zu denen die Baumeister nicht rechneten. Vermutlich haben die bislang noch unbekannten Texte, in denen sie aufgeführt waren, in einem anderen Archivkontext gestanden.89
Mit Blick auf die an der Ausschmückung des Ekur beteiligten Handwerker des Handwerkerhauses verweist Neumann ebenfalls auf Parallelen aus späterer Zeit. So findet die Tätigkeit hochqualifizierter Handwerker im Bereich des Tempelbaus Entsprechungen etwa in den ausführlichen Baubeschreibungen Gudeas sowie in Inschriften des kassitischen Herrschers Agum-kakrime (16. Jh. v. Chr.) und des assyrischen Königs Asarhaddon.90
Umfangreiches und zugleich sehr aussagekräftiges Belegmaterial zur Bauverwaltung und zu den unterschiedlichen Tätigkeiten der Baumeister liefern Ur III-zeitliche Verwaltungs-, Gerichts- und private Rechtsurkunden aus Umma, Girsu, Nippur, Puzriš-Dagan und Ur (spätes 22.–21. Jh. v. Chr.).
Vornehmlich waren die Ur III-zeitlichen Baumeister in der Palast- und Tempelwirtschaft eingesetzt. Mit ihren zahlreichen Bauprojekten im Bereich der Profan- und Sakralarchitektur stellten die diversen Provinz- und Tempelverwaltungen im Reich der Herrscher von Ur die wichtigsten Auftraggeber der Baumeister dar. Die Bauaufgaben bestanden zum einen in der Errichtung von Neubauten, zum anderen in Erweiterungs- und Reparaturarbeiten, wie sie gerade an Lehmziegelgebäuden in regelmäßigen Abständen durchzuführen sind. So erfährt man etwa, um nur zwei Beispiele zu nennen, von Bauarbeiten an der Wohnung der Lukur-Priesterin des Ninurta in Nippur und am Amar-Su’ena-Tempel in Umma.
Baumaterialien und Arbeitsgeräte, die von den Bauleuten in Empfang genommen wurden, kamen teilweise aus den Depots der jeweiligen Verwaltungen. Belegt sind Hölzer und Holzgegenstände, Gefäße, Metallgeräte, Taue, Bitumen, Rohr und Dattelpalmenteile. Auch Arbeitskräfte, die u. a. zur Vorbereitung der Ziegelmasse, zum Ziegelstreichen und beim Lastentransport eingesetzt werden konnten, stellten die Verwaltungen den Baumeistern zur Verfügung.
Die Anzahl der Arbeiter war abhängig von Art und Umfang der jeweiligen Bauprojekte sowie der Quote der beteiligten Baumeister. In einigen Texten aus Umma wird als Einsatzort der Arbeiter das é-šidim, also die Werkstatt respektive der Arbeitsbereich des Baumeisters, genannt. Vielleicht bezieht sich der Begriff auch auf spezifische Baustelleneinrichtungen, zu denen Materiallager, Asphaltöfen usw. gehörten. Urkunden, die die Bauarbeiten am Šara-Tempel von Umma betreffen, zeigen ferner, dass der Einsatz namentlich genannter Baumeister dort monatlich festgelegt worden ist. Außer den ungelernten Hilfskräften hat man den Baumeistern wie schon in früheren Perioden auch qualifizierte Handwerker wie z. B. Zimmerleute, Lederarbeiter und Rohrflechter an die Seite gestellt.
Die Arbeitsleistung der Baumeister wurde jeweils durch eine genaue Buchführung erfasst. Hierfür könnte der dub-sar-šidim zuständig gewesen sein, der in Girsu sowohl in frühdynastischen wie auch Ur III-zeitlichen Texten bezeugt ist.91
Erst unlängst ist ein bedeutendes Corpus bei Raubgrabungen entdeckter Ur III-zeitlicher Verwaltungsurkunden, die neben anderem die Organisation eines großen Mauerbauprojekts zum Gegenstand haben, veröffentlicht worden.92 Die nach ihrem mutmaßlichen, bislang noch nicht exakt lokalisierten Herkunftsort benannten „Garšana-Texte“ bereichern unser Wissen um die Ur III-zeitliche Bauverwaltung um wesentliche Details. Sie kommen aus einer südmesopotamischen Verwaltungseinheit in der Provinz Umma, die offenbar dem königlichen Haushalt eingegliedert war. In den Urkunden sind diverse Aspekte des Baugeschehens wie die Aushubarbeiten, die Gründungszeremonien, die Zahl und Organisation der mit der Ziegelherstellung und dem Ziegeltransport betrauten Arbeiter und Arbeiterinnen, ihr Arbeitspensum und ihre Entlohnung dokumentiert.
Einen zentralen Bereich des öffentlichen Bauwesens bildeten gleichfalls die landwirtschaftlichen Wasserbauten. Sie waren notwendig, um das Hochwasser von Euphrat und Tigris zu kontrollieren und durch Überstauungsbewässerung für die Landwirtschaft nutzbar zu machen. Hierzu mussten großflächig Dämme und Deiche, Wasserreservoire und Kanalnetze gebaut und unterhalten werden, die ein hochentwickeltes Fachwissen der an der Planung beteiligten Ingenieure erforderten.93
Schon früh im 3. Jahrtausend v. Chr. stellte die Errichtung und Pflege der Bewässerungsanlagen, die die Fruchtbarkeit und den Wohlstand des Landes garantierten, eine der wichtigsten Aufgaben der staatlichen Autoritäten im südlichen Zweistromland dar, während die Tempel offenbar keine unmittelbare Verantwortung für die Wasserbauten getragen haben. Hiervon zeugen neben Königsinschriften und Jahresnamen nicht zuletzt zahlreiche Briefe und Verwaltungsdokumente, wie sie insbesondere aus der Ur III-Zeit und der altbabylonischen Zeit vorliegen.94
Umfangreiche wasserbauliche Maßnahmen sind bspw. für Urnammu von Ur (2112–2095 v. Chr.) und Rimsin I. von Larsa (1822–1763 v. Chr.) sowie weiterhin für die Herrscher von Mari überliefert. Die Quellen illustrieren die Einbindung des Palastes und seiner lokalen Administrationen in die – zunächst subsistenzsichernden, später aber auch massive Versalzungsprobleme aulösenden – Aktivitäten der Anlage, der Instandhaltung und des Ausbaus der weitläufigen Kanalnetze, Schutzdämme und Bewässerungseinrichtungen.95
Ur III-zeitliche Wirtschaftstexte aus Umma etwa geben genaue Auskunft über die Zeiträume, während derer an den Bewässerungsanlagen gearbeitet wurde. Die Texte zeigen, dass sich die Arbeiten in Umma zwar prinzipiell über das ganze Jahr verteilt haben, es jedoch im März, April und Juli Zeiten überdurchschnittlich starker Initiative gegeben hat. Im Mai und Juni sind hingegen offenbar nur Notmaßnahmen bei Hochwassergefährdung durchgeführt worden, da alle verfügbaren Arbeiter zur Einbringung der Getreideernte, zum Dreschen und zum Transport des Getreides zu den Speichern eingesetzt waren. Die geringste Anzahl von Aktivitäten an den Bewässerungseinrichtungen fiel in die Zeit von September bis November, da die Arbeiter in dieser Zeit die Felder für die neue Aussaat vorbereiten mussten.96
H. Neumann wirft in Zusammenhang mit der Tätigkeit der Baumeister im Kontext der Palast- und Tempelökonomie die Frage auf, inwieweit sie zum festen Personalbestand der staatlichen Wirtschaftseinheiten gehört haben. Für die altbabylonische Periode liegen Quittungen („dockets“) aus der Zeit Hammurapis (1792–1750 v. Chr.) und seines Nachfolgers Samsuiluna (1749–1712 v. Chr.) vor, die eine Miete von Baumeistern, Zimmerleuten, Rohrflechtern, Ziegelstreichern und weiteren Personen durch die staatliche Verwaltung für zeitlich begrenzte Einsätze belegen.97 J. N. Postgate hat vor diesem Hintergrund von der Existenz eines freien Arbeitsmarktes in altbabylonischer Zeit gesprochen.98
Neumann nimmt an, dass man sich die Verhältnisse während der Ur III-Zeit trotz ungünstigerer Quellenlage ähnlich vorzustellen hat, zumindest hinsichtlich eines Teils der für die öffentlichen Haushalte geleisteten Arbeit. Zugleich steht aber fest, dass die staatlichen Wirtschaftseinheiten in ihrem Personalbestand auch eigene Baumeister gehabt haben, schon allein aufgrund der häufig angefallenen Reparaturen.
Eine Rationsabrechnung aus dem Bereich der „Neuen Mühle“ in Girsu etwa führt einen Baumeister explizit als Teil des ständigen Personals jener Wirtschaftseinheit auf. Ebenso signalisieren Zusätze in Verbindung mit der Berufsbezeichnung wie z. B. „Baumeister des Lagerhauses“ die feste Zugehörigkeit der betreffenden Baumeister zu bestimmten staatlichen Wirtschaftseinheiten. V. a. zur Erntezeit konnten Baumeister allerdings offenbar auch zu anderen, landwirtschaftlichen Arbeiten herangezogen werden.99
Für die Ausführung privater Bauaufträge durch einzelne Baumeister gibt es bislang ebenfalls noch keine unumstößlichen Belege aus der Ur III-Zeit. Neumann sieht jedoch keinen zwingenden Grund, weshalb Baumeister damals nicht bereits so wie in altbabylonischer Zeit im privaten Bereich tätig gewesen sein sollten.
Er hält es für sehr wahrscheinlich, dass die §§ 228–233 und 274 des Codex Hammurapi auch schon die privatrechtliche Situation am Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. reflektieren. Die den Baumeister betreffenden §§ 228–233 haben einerseits den Honorartarif für die sachgemäß ausgeführte Arbeit des Baumeisters und andererseits die Strafsanktionen für Tötungen und Sachbeschädigungen, die durch die nicht sachgerechte Ausführung von Bauarbeiten im Rahmen von Werkvertragsverhältnissen erfolgen, zum Gegenstand. In § 274 geht es um Miettarife.100
Neumann verweist in diesem Zusammenhang gleichfalls auf eine Ur III-zeitliche Urkunde aus Girsu, die das Problem der Bestätigung von Ansprüchen auf ein Guthaben behandelt. Aus der Urkunde geht hervor, dass eine Schuld in Gerste, die zwei Personen gegenüber der staatlichen Verwaltung haben, auf einen Baumeister übertragen wird, nachdem die beiden Personen, offenkundig bei einem Hauseinsturz, getötet werden.
Bei Tötung durch Hauseinsturz aufgrund unsachgemäßer Bauausführung muss gemäß CH § 229–230 der Baumeister bzw. dessen Sohn haften. Eben jene Situation scheint in der Urkunde gegeben zu sein. Während aber der Baumeister im Codex Hammurapi mit der Todesstrafe bedroht wird, mag die Schuld im vorliegenden Fall durch eine Zahlung beglichen worden sein.
Tatsächlich handelt es sich beim Codex Hammurapi ja auch nur um einen Rechtsstandard, dessen Normen sich nicht zwangsläufig mit der Rechtssprechung im konkreten Einzelfall decken müssen.101 Die Urkunde deutet jedenfalls darauf hin, dass die Baumeister bei Unfällen auch für Verpflichtungen der durch ihre Nachlässigkeit zu Tode gekommenen Personen gegenüber Dritten aufzukommen hatten.102
Erwähnenswert ist weiterhin eine Gruppe altbabylonischer Texte aus Kiš. Sie stammt offenbar aus einer Verwaltungseinheit, die „al-tar“-Arbeiten wie die Ziegelherstellung und den Ziegeltransport organisiert hat, d. h. Tätigkeiten, die von ungelernten Kräften durchgeführt werden konnten. Die Tafeln geben unmittelbaren Einblick in den Aufbau und die Arbeit der Behörde.103
An der Spitze des Amts befand sich ein Leiter (šūzubtum), unterstützt von zwei Schriftführern (níg-šu). Fünf Aufseher (waklum) wiesen die Arbeiter an. Bei letzteren konnte es sich um Dienstverpflichtete handeln, namentlich Soldaten (rēdû), die direkt dem Amtsleiter unterstanden. Für ein Stück Land, das ihnen zugeteilt worden war, schuldeten sie der Krone Dienst. Die übrigen Arbeiter waren Tagelöhner. Den Texten ist zu entnehmen, dass man Tätigkeiten am Bau, für die keine ausgebildeten Handwerker erforderlich waren, vorzugsweise von Dienstverpflichteten oder Tagelöhnern hat ausführen lassen.104
Ein gutes Beispiel der Administration eines großen Bauprojekts aus der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. stellt die Errichtung der assyrischen Residenzstadt Dur-Šarrukin unter Sargon II. dar (Abb. 3.26, 3.31). Neben dem König als Projektinitiator und Auftraggeber war in Dur-Šarrukin Tab-šar-aššur, der königliche Schatzmeister, der zentrale Koordinator und zugleich oberste Aufseher der Bauarbeiten. Die Korrespondenz aus den assyrischen Staatsarchiven lässt deutlich erkennen, wie man die Verantwortung für die Materialbeschaffung, Rekrutierung von Bauleuten und Realisierung der einzelnen Teile des gigantischen Bauvorhabens an die verschiedenen Minister und Provinzgouverneure des Reiches übertragen hat. Da die Quellen zu Dur-Šarrukin auch die Baustellenorganisation sehr gut illustrieren, sollen sie aber erst im Abschnitt zur Logistik näher behandelt werden.
Obwohl die großen Bauprojekte prinzipiell Angelegenheit des Königs waren, konnte sich der Palast zu ihrer Durchführung ebenfalls an die Tempeladministrationen wenden. So legt F. Joannès dar, dass in neu- und spätbabylonischer Zeit (erste Hälfte des 1. Jt. v. Chr.) verschiedene große königliche Bauunternehmungen de facto von den Heiligtümern durchgeführt worden sind, denen die königliche Verwaltung einen Teil der finanziellen Mittel und der erforderlichen Baumaterialien zuwies.105
Ferner hat man in spätbabylonischer Zeit für einzelne Bauaufgaben, v. a. solche, bei denen Backsteine benötigt wurden, auch Privatunternehmer hinzugezogen. Diese wiederum konnten Subunternehmer, z. B. Flussschiffer für den Ziegeltransport, engagieren, um ihre mit der Administration, d. h. der Palast- oder Tempelverwaltung, geschlossenen Lieferverträge zu erfüllen.
Die betreffenden Unternehmer waren keineswegs ausschließlich auf öffentliche Arbeiten spezialisiert, sondern verfügten über Finanzmittel und Arbeitskräfte, die es ihnen erlaubten, in unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen auf einen punktuellen Bedarf zu reagieren. In Borsippa und Babylon haben sie sich bloß in der Zeit der großen Bauprojekte der spätbabylonischen Könige (Abb. 3.24, 3.34, 3.49) an der Ziegelfabrikation und -anlieferung beteiligt.
Bestimmte Markierungen, insbesondere in aramäischer Schrift geschriebene Namen, auf spätbabylonischen Ziegeln aus Babylon könnten nach M. Sauvage Signets solcher Unternehmer oder Ziegelbrenner, die für königliche Bauprojekte gearbeitet haben, repräsentieren, da die Ziegel zusätzlich noch königliche Ziegelstempel aufweisen.106
3.3.3 Mittelverwaltung, Bauleistungskontrolle und Bauabnahme
Die Verwaltung der Mittel oblag bei Bauunternehmungen altorientalischer Herrscher vermutlich primär dem jeweiligen Schatzmeister, wie dies sehr anschaulich das Beispiel des königlichen Schatzmeisters Sargons II., Tab-šar-aššur, zeigt.107 Dabei erfolgte die Bereitstellung der für die Bauprojekte erforderlichen Ressourcen im Einzelfall zweifellos auf sehr unterschiedliche Weise. Hier seien stellvertretend einige ins 2. und 1. Jahrtausend v. Chr. datierende Zeugnisse aus dem assyrischen Bereich aufgeführt.
Aus der an den Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. datierenden Korrespondenz der assyrischen Handelskolonien in Anatolien erfährt man, dass sich die im kappadokischen Kaneš ansässigen assyrischen Kaufleute an den Baukosten der Befestigungsanlagen ihrer Heimatstadt Assur zu beteiligen hatten. Prinzipiell ist wohl davon auszugehen, dass die finanzielle Last der baulichen Unternehmungen der Herrscher stets vom gesamten Land getragen werden musste.108
Zugleich entwickelten sich in Assyrien nach der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. Krieg, Kriegsbeute und Tribute zu bevorzugten Instrumenten, die für die zahlreichen großen Bauvorhaben erforderlichen Mittel, Arbeitskräfte und Baumaterialien aufzubringen.109 Allerdings ist zu beachten, dass diese Art der Finanzierung von Bauprojekten im Alten Orient keineswegs immer derart im Vordergrund gestanden hat wie im durch eine sehr aggressive Außenpolitik gekennzeichneten mittel- und neuassyrischen Reich.
Auch ist die Beschaffung und Verwaltung der finanziellen Mittel in den einzelnen Sparten des öffentlichen Bauwesens, wie etwa dem Städtebau, dem Palastbau und dem Wasserbau vermutlich nicht völlig identisch gewesen und speziell im Hinblick auf den Sakralbau würde man gerne mehr darüber erfahren, inwieweit der Haushalt des Herrscherpalasts, die Tempelhaushalte und ggf. Dritte die Baukosten untereinander aufgeteilt haben.
Aussagekräftige Quellen hierzu sind nach wie vor rar. Immerhin gibt es sporadische Hinweise auf die Finanzierung kleiner öffentlicher Kapellen durch Privatpersonen. Zudem ist, wie bereits angesprochen, für die neu- und spätbabylonische Zeit eine Kooperation und anteilige Finanzierung von Bauprojekten durch Palast- und Tempeladministrationen dokumentiert.110
Weiterhin belegen Briefe, dass der Bau der Wohnhäuser von Dur-Šarrukin, der neu errichteten Residenzstadt Sargons II., zumindest in einigen Fällen über Darlehen von Händlern finanziert worden ist, die nach der Fertigstellung der Häuser zurückgezahlt werden mussten. Mit Klagen über ausstehende Forderungen wandten sich die Gläubiger unmittelbar an den König. Die Häuser sind u. a. für Offiziere der assyrischen Armee gebaut worden, nähere Einzelheiten hinsichtlich ihrer Planung und Errichtung enthalten die Texte jedoch nicht.111
Auch über die Wohnhäuser hinaus scheint man einen beträchtlichen Anteil der Baukosten von Dur-Šarrukin mit Hilfe von Krediten privater Verleiher finanziert zu haben. Zugleich tauschte der König bei ihnen Gold und Edelsteine aus seiner Schatzkammer gegen gängige Finanzmittel ein. Hiermit könnten u. a. die Alteigentümer der Felder, auf denen Dur-Šarrukin errichtet worden ist, ausbezahlt worden sein. Sie sind vom König den einzelnen Kaufdokumenten gemäß mit Silber oder Bronze entschädigt worden.112
Abschließend sei noch ein amarnazeitliches Zeugnis über die Finanzierung von Bauvorhaben genannt. Es handelt sich um einen Brief des assyrischen Herrschers Aššur-uballit I. an den ägyptischen Pharao, in dem er diesen um die Sendung von Gold zur Ausschmückung seines neuen Palastes bittet. Dabei betont der Assyrer, dass auch schon einer seiner Vorgänger, Assur-nadin-ache (1390–1381 v. Chr.), auf eine entsprechende Anfrage hin vom ägytischen Herrscher 20 Talente Gold erhalten habe.113
Über die Leistungskontrolle im Zuge von Baumaßnahmen und die Modalitäten der Bauabnahme sind wir nicht näher unterrichtet. Briefe aus der späten neuassyrischen Zeit erweisen aber, dass Abgesandte des Königs, die dem Herrscher über den Zustand einzelner Gebäude sowie notwendige Restaurierungsmaßnahmen Bericht erstatten mussten, anschließend auch über den Fortgang der Arbeiten auf der Baustelle gewacht haben.114
3.3.4 Baubehörden und Baugesetze
Eine Frühform von Baubehörden, verantwortlich für die Zuteilung städtischer Baugrundstücke, hat P. Pfälzner aus frühbronzezeitlichen Zeugnissen von Wohnarchitektur in Nordmesopotamien erschlossen. Dort tritt in den Perioden Früh-Ğazira II–IIIa, die sich mit dem Übergang von der älteren zur jüngeren frühdynastischen Zeit in Südmesopotamien während der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. korrelieren lassen, mit dem Typus der „Parzellenhäuser“ ein neuartiges Hauskonzept auf. Die aussagekräftigsten Befunde liegen aus dem städtischen Zentrum Tell Chuera und der kleinstädtischen Siedlung Tell Bderi vor, doch gibt es Belege auch aus vielen anderen Orten.
Die Parzellenhäuser weisen untereinander vergleichbare Grundrißelemente, allerdings in variierender Anordnung, und normierte Gassenfrontbreiten auf, denen gemäß Pfälzner mit einer Ausnahme das sumerische Längenmaß nindan zugrunde liegt. Im einzelnen konnten die Frontbreiten der Häuser 6 m, 7,5 m, 9 m, 12 m und 15 m betragen. Das entspricht 1 nindan, 1
nindan, 1
nindan, 2 nindan und 2
nindan. Die Frontbreite von 8 m geht demgegenüber möglicherweise auf ein lokales nordmesopotamisches Maßsystem zurück. Aufgrund der standardisierten Frontabmessungen der Häuser nimmt Pfälzner an, dass die Grundstücke den Bewohnern institutionell zugewiesen worden sind, während die im Einzelfall stark variierende Bauausführung in den Händen der einzelnen Haushalte gelegen habe.
In den Parzellenhäusern sieht er einen frühen Beleg städteplanerischen Vorgehens, das den Administrationen einer Reihe frühbronzezeitlicher Orte im nordmesopotamischen Raum die geregelte Anlage städtischer Siedlungsviertel ermöglicht habe. Von daher sei das Konzept der Parzellenhäuser als integraler Bestandteil der Urbanisierung Nordmesopotamiens im 3. Jahrtausend v. Chr. zu sehen.115
Für die neuassyrische Zeit ist die Existenz Aufsicht führender Baubehörden zumindest indirekt daraus zu erschließen, dass Sanherib in einer Inschrift alle Bewohner Ninives davor warnt, ihr Haus so zu errichten, dass die Fundamente in seine kurz zuvor angelegte königliche Straße hineinragen, und damit droht, Missetäter unmittelbar am Ort ihres Vergehens zu pfählen.116 Freilich lässt die Textstelle die Möglichkeit offen, dass die fragliche Behörde auch mit Angelegenheiten, die nicht unmittelbar unter das Bauwesen fallen, befasst war.
Weiterhin ist der die Errichtung von Dur-Šarrukin betreffenden Korrespondenz aus dem späten 8. Jahrhundert v. Chr. zu entnehmen, dass für die Baustellen in der Stadt strenge Sicherheitsanordnungen erlassen worden sind, die bspw. das Entzünden von Feuern untersagten.117
Bekannt sind schließlich die schon erwähnten Gesetzesparagraphen 228–233 des Codex Hammurapi aus der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr., die das Rechtsverhältnis zwischen Hauseigentümer und Baumeister zum Gegenstand haben.118
3.4 Bauplanung
3.4.1 Bauplanung und berufliche Qualifikation
In seiner Untersuchung zum Baumeister spricht H. Neumann dezidiert auch die Frage der beruflichen Qualifikation an.119 Die Baumeister bilden eine Berufsgruppe, die für sich in Anspruch nimmt, vorwiegend aus eigens für die Bautätigkeit ausgebildeten Personen zu bestehen. Außer berufspraktischen Fähigkeiten waren für ihre Arbeit ebenfalls theoretische Kenntnisse, insbesondere mathematischer Art, erforderlich. Darauf weisen nicht zuletzt die Belege für Baumeister in mathematischen, wohl vielfach dem Unterricht entstammenden Texten. Hierin ging es sehr oft um Mengenberechnungen, etwa die Ermittlung der für bestimmte Bauaufgaben benötigten Ziegelanzahl etc.120 Unabdingbar war ferner ein profundes Wissen um technologische Zusammenhänge, wie es sich in den gebauten Objekten und in den zahlreichen überlieferten, wenngleich für uns nicht immer leicht verständlichen sumerischen und akkadischen Bautermini niederschlägt.121
Auch die eher begrenzte Zahl von itinnum-Belegen in den Texten des 2. und 1. Jahrtausends v. Chr. spricht dafür, dass die Berufsqualifikation der Baumeister auf einer intensiven Ausbildung beruht haben muss. Namentlich die Quellen aus altbabylonischer Zeit (erste Hälfte des 2. Jt. v. Chr.) signalisieren dabei, dass der spezifischen Wortbedeutung von itinnum weder eine einseitige Übersetzung im Sinne von „Architekt“ noch eine Wiedergabe im Sinne von „Maurer“ gerecht wird.
Aus mittelassyrischer Zeit (zweite Hälfte des 2. Jt. v. Chr.) liegen Nachrichten über nach Assyrien verschleppte hurritische Bauleute vor. Zumindest in einer Reihe von Fällen handelt es sich offenkundig um qualifiziertes Fachpersonal, dem eine wichtige Rolle bei den Bauarbeiten in Kar-Tukulti-Ninurta, der Residenzstadt Tukulti-Ninurta I. (1233–1197 v. Chr.), zugekommen zu sein scheint. Die Bauleistungen in Kar-Tukulti-Ninurta sind von daher auch auf die Fähigkeiten der in einer fremden Bautradition stehenden Gruppe der Deportierten zurückzuführen.122 In neuassyrischer Zeit (erste Hälfte des 1. Jt. v. Chr.) lassen die Texte eindeutig eine leitende Funktion der Baumeister im Baugeschehen erkennen.123
Ein bedeutendes spätbabylonisches Textdokument zur Unterweisung von Baumeistern liegt in Gestalt eines in die Zeit des Nabonid (555–539 v. Chr.) datierenden Lehrvertrages aus Babylon vor. In dem Vertrag gibt Minâ-ana-Bel-danu, eine aus einer Baumeisterfamilie stammende Person, einen Sklaven zum Erlernen des Baumeisterhandwerks bei einem Lehrmeister in die Lehre. Der Lehrberuf wird als arad-ekallūtu bezeichnet, nimmt also auf die Tätigkeit eines arad ekalli Bezug. Dies ist, wie es scheint, eine besondere spätbabylonische Bezeichnung für einen qualifizierten Bauberuf.
Die Lehrzeit beträgt acht Jahre. Selbst wenn hierin neben der unmittelbaren Lehrzeit auch die Arbeitspflicht des Lehrlings gegenüber dem Lehrmeister enthalten sein dürfte, signalisiert die beträchtliche Ausbildungsdauer einen erheblichen Umfang und Schwierigkeitsgrad der vermittelten Kenntnisse und Fertigkeiten.124 Zum Vergleich beträgt nach einem anderen spätbabylonischen Lehrvertrag die ebenfalls recht lange Lehrzeit für das Zimmermannshandwerk sechs Jahre.
Zwar sind aus den Urkunden u. U. nicht direkt ersichtliche Eigenheiten der beiden Lehrverhältnisse denkbar, weshalb man vor einer vorschnellen Generalisierung hinsichtlich gängiger Ausbildungszeiten gewarnt hat, doch steht außer Zweifel, dass der Beruf des Baumeisters in Mesopotamien eine profunde Ausbildung erforderte. Hierauf deutet auch die sumerische literarische Tradition, die dem Weisheitsgott Enki entscheidenden Anteil an der Errichtung des Eninnu, des Heiligtums des Gottes Ningirsu in Girsu, zuschreibt.125 Nach der Dichtung Enki und die Weltordnung war es gleichfalls Enki, der den Gott Mušdama als für das Bauwesen verantwortliche Gottheit eingesetzt hat. Angesichts des engen Bezuges Enkis zum Beruf des Baumeisters verwundert es nicht, wenn in der späteren Listentradition dMušda (eine verkürzte Schreibung für dMušdama) mit dÉ-a ša i-tin-ni, dem „Ea des Baumeisters“, gleichgesetzt wird. Hierin kommt sehr klar die Verantwortlichkeit Eas für die Tätigkeit der Baumeister, denen er offenbar eine Art Schutzpatron gewesen ist, zum Ausdruck.
Selbstverständlich kann nicht für jeden itinnum oder šidim das gleiche Qualifikationsniveau vorausgesetzt werden. Neumann nimmt an, dass es ähnlich wie in anderen Handwerksberufen keine strikte Trennung zwischen dem planenden und leitenden Baumeister und dem zwar erfahrenen, jedoch in untergeordneter Position in die Bauarbeiten oder Reparaturmaßnahmen involvierten Baufachmann gegeben hat. Ersterer könne vielleicht am ehesten noch mit den modernen Begriffen „Architekt“ oder „Bauleiter“ umschrieben werden, während letzterer wohl als Mittler zwischen Bauleiter und Bauarbeitern aufgetreten sei. Die ungleiche Stellung der Baumeister im Rahmen des Baugeschehens habe sich aus dem individuellen Qualifikationsniveau wie auch der hierarchischen Gliederung innerhalb der Berufsgruppe ergeben. Sie finde ihren Niederschlag ebenfalls in der sozialen Einbindung der einzelnen Baufachleute.126
Bezieht man neben den Textquellen auch die archäologischen Befunde stärker in die Betrachtung ein, verändert sich der Blickwinkel. Es zeigt sich, dass das Thema Bauplanung und Qualifikation ebenso wie die eng damit verknüpfte Frage, inwieweit Planung, Bauleitung und Bauausführung in einer Hand gelegen haben können, stets vor dem Hintergrund der jeweiligen Bauaufgabe erörtert werden sollten.
Im privaten Wohnhausbau ist angesichts zahlreicher ethnographischer Parallelen aus dem Irak, Syrien und dem Iran mit einiger Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Arbeiten gemeinhin im wesentlichen von den Bewohnern selbst zusammen mit Verwandten und Nachbarn verrichtet worden sind.127 In hohem Maße sollte dies für den Wohnhausbau auf dem Land zutreffen. Allerdings lässt sich den rezenten Beispielen entnehmen, dass es im Dorf oder der Umgebung meist Leute gibt, die mit den technischen Fragen des Bauens besonders gut vertraut sind und die, sofern nötig, hinzugezogen werden können. Der Wohnhausbau in den kleineren Siedlungen dürfte also überwiegend von ungeschulten Kräften durchgeführt worden sein, die aber punktuell von erfahrenen Praktikern unterstützt worden sind.
In den Städten, etwa dem frühbronzezeitlichen Tell Chuera, wird man sicher nicht selten in ähnlicher Weise verfahren sein, wobei jedoch die schon erwähnte Korrespondenz zu Dur-Šarrukin aus der Zeit Sargons II. (722–705 v. Chr.) veranschaulicht, dass der Wohnhausbau im urbanen Kontext gleichfalls einer übergeordneten Planung entspringen, d. h. koordiniert und unter der Leitung ausgebildeter Baumeister erfolgen konnte. Entsprechend konstatiert P. A. Miglus in seiner Untersuchung zur städtischen Wohnarchitektur in Babylonien und Assyrien, dass etliche Häuser aus dem 2. und der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. von erfahrenen Architekten entworfen und im Detail geplant worden sein müssen.128
Auch die den Baumeister betreffenden Gesetzesparagraphen aus dem Codex Hammurapi sind wohl primär im Kontext des städtischen Wohnhausbaus zu verstehen, zumal dort durch die dichtere Bebauung zuweilen eine mehrstöckige Bauweise erforderlich war129, die erhöhte Anforderungen an die fachliche Kompetenz der Planer und Bauausführenden stellte.130
Ein Nebeneinander unterschiedlicher Formen des städtischen Wohnhausbaus ist während der Isin-Larsa- und der frühen altbabylonischen Zeit (erstes Viertel des 2. Jt. v. Chr.) in den beiden Wohnvierteln bzw. Nachbarschaften TA und TB im Scribal Quarter von Nippur festzustellen. In der nach den Textfunden von kleinen Grundeigentümern bewohnten Nachbarschaft TA scheinen die Häuser von den Bewohnern selbst errichtet worden zu sein. Sie variieren in Größe, Grundrissgestalt und baulicher Qualität, je nach den persönlichen Bedürfnissen und dem finanziellen Spielraum der einzelnen Familien sowie den handwerklichen Fähigkeiten der Erbauer. In der von landlosen Beamten der Tempelbürokratie bewohnten Nachbarschaft TB zeichnen sich die Hausgrundrisse dagegen durch eine einheitlich großzügige Konzeption, eine strenge Formalisierung und eine solide bauliche Ausführung aus. E. Stone deutet den Befund dahingehend, dass die Häuser in TB von professionellen Baumeistern im Auftrag der großen Tempelinstitutionen errichtet worden sind.131
Ganz ähnlich sind auch schon die Wohnhäuser der urukzeitlichen, in das späte 4. Jahrtausend v. Chr. datierenden Stadt Habuba Kabira am mittleren Euphrat sowie des in Sichtweite gelegenen Kult- und Verwaltungszentrums auf dem Ğebel Aruda durch eine auffällige Standardisierung der Bauformen und Baumaterialien sowie eine für gewöhnlich sehr sorgfältige Bauweise gekennzeichnet (Abb. 3.12). Die Methode der Absteckung von Grundrissen auf der Basis von Dreiecken mit Seitenlängen im Verhältnis 3:4:5 war bereits bekannt und wurde bevorzugt angewandt.
Aus dem architektonischen Befund hat man nicht nur auf eine bewusste Vorausplanung vieler Häuser, sondern auch auf eine Ausführung der Bauarbeiten durch erfahrene Bauleute geschlossen. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass bereits die Verwaltungsurkunden und lexikalischen Listen der Uruk IV- und III-Zeit – d. h. die frühesten Textzeugnisse aus Mesopotamien überhaupt (spätes 4. Jt. v. Chr.) – Belege des Terminus šidim, d. h. der Berufsbezeichnung des Baumeisters, enthalten.132
Da die Häuser in Habuba Kabira trotz identischer Proportionen von sehr unterschiedlicher Größe sein konnten, nimmt K. Kohlmeyer aber im Gegensatz zu D. R. Frank an, dass man mit wechselnden Modulen und nicht mit verbindlichen Grundmaßen und deren Bruchzahlen gemessen hat, auch wenn die Maßeinheiten im allgemeinen auf Teilen des menschlichen Körpers beruht zu haben scheinen. Zu einer Vereinheitlichung der Maßsysteme unter einer Zentralgewalt scheint es im Alten Orient erst in der zweiten Hälfte des 3. Jahrtausend v. Chr. gekommen zu sein.133
Die Errichtung oder Instandsetzung großer öffentlicher Bauten wie sie bspw. Tempel, Paläste, Magazine oder auch Verteidigungsanlagen repräsentieren, stellte im Regelfall deutlich höhere Anforderungen an die Qualifikation der damit beauftragten Personen als der Wohnhausbau. Insofern steht außer Frage, dass die Konzeption entsprechender Bauten in dem hier behandelten Zeitraum von der Mitte des 4. bis zur Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. grundsätzlich in den Händen ausgebildeter Baumeister und Spezialisten gelegen haben muss.
Über die genauen Modalitäten der Planung öffentlicher Bauten erfährt man aus den Texten allerdings kaum etwas. Die königlichen Bauinschriften, wie sie etwa aus der mittel- und neuassyrischen Zeit bekannt sind, erhalten prinzipiell die Fiktion aufrecht, dass Planung und Leitung der großen Bauprojekte allein in den Händen des göttlich inspirierten Königs gelegen haben. Auch andere Textgattungen wie etwa Briefe und Urkunden liefern zum Planungsprozess lediglich sehr begrenzte und punktuelle Informationen. Erwähnung verdienen hauptsächlich noch Bauzeichnungen unterschiedlicher Epochen134 und mathematische Texte aus altbabylonischer Zeit, die zeigen, dass die Bauleute in der Lage waren, vor Baubeginn zu berechnen, wie viele Ziegel unterschiedlicher Größe für ein Bauvorhaben benötigt wurden, wie viele Arbeiter wie lange für die Ziegelherstellung tätig sein mussten und wie viele Baumaterialien ein Arbeiter täglich über eine bestimmte Distanz zur Baustelle transportieren konnte.135
Aus jenem Grund kommt an dieser Stelle den Ergebnissen der archäologischen Forschung erhöhte Bedeutung zu. Dabei handelt es sich jedoch um eine Reihe sehr weit gestreuter Einzeluntersuchungen, meist Ausgrabungspublikationen, die singuläre Beobachtungen, Schlüsse und Hypothesen zum Planungsprozess und zur Bauausführung spezifischer Bauwerke enthalten. Hier kann diese Literatur deshalb nur auszugsweise erörtert werden. Zu nennen sind u. a. die umfangreichen Endpublikationen der Ur III-zeitlichen bis altbabylonischen und spätbabylonischen Stufentürme von Uruk-Eanna und Babylon sowie die Veröffentlichung der amerikanischen Feldforschungen auf der Zitadelle und im Stadtgebiet der neuassyrischen Residenzstadt Dur-Šarrukin.136 Die Arbeit von Schmid wird aufgrund ihres exemplarischen Charakters weiter unten in Verbindung mit den Aspekten des Planungsniveaus und der Planungstiefe sowie der Baustellen-Logistik noch näher behandelt.
Einen im vorliegenden Zusammenhang relevanten Punkt bildet ebenfalls der Architekturdekor. Innerhalb des öffentlichen Bauwesens ist dem Architekturdekor als vielgestaltigem baulichen Ausdrucksmittel seit der Zeit des Aufkommens erster Städte in Mesopotamien während des 4. Jahrtausends v. Chr. eine immer größere Bedeutung zugewachsen. Das formale Element und der Bauschmuck traten damals bei zahlreichen Bauten der Großarchitektur so stark in den Vordergrund, dass der mit ihnen verbundene Arbeits- und Materialaufwand die mit der restlichen Bauausführung verbundenen Lasten nicht selten überstiegen haben dürfte. In ihren gewaltigen Dimensionen und ihrer architektonischen Qualität lassen die zumeist an zentralen Punkten innerhalb der Siedlungen errichteten Baumonumente kaum einen Zweifel daran, dass wohl schon während der Ubaidzeit (5. Jt. v. Chr.), spätestens jedoch seit der Urukzeit in unterschiedlicher Weise spezialisierte Bauleute an Konzeption und Realisierung beteiligt gewesen sein müssen.137
Abb. 3.13: Rekonstruktion der Südostfassade der Pfeilerhalle im Eannabezirk von Uruk/Urukzeit (Brandes 1968, Tf. 7).
Abb. 3.13: Rekonstruktion der Südostfassade der Pfeilerhalle im Eannabezirk von Uruk/Urukzeit (Brandes 1968, Tf. 7).
Gute Beispiele für die schon in früher Zeit sehr weit fortgeschrittene Entwicklung des Bauschmucks stellen die aus Stein respektive Keramik bestehenden Stiftmosaiken des Steinstifttempels, des Mosaikhofs und der Pfeilerhalle (Abb. 3.13) im späturukzeitlichen Eannabezirk von Uruk dar.138 Aus den differenzierten Kompositionen, Rastern und Verlegungstechniken der Mosaikmuster ist, wie M. A. Brandes in seiner Arbeit zur Pfeilerhalle hat nachweisen können, zwingend auf eine sehr detaillierte Vorausplanung der Dekore zu schließen139, wie auch für die Herstellung und Anbringung der steinernen und tönernen Mosaikstifte ohne Frage besonders qualifizierte Handwerker verfügbar gewesen sein müssen.140
Abb. 3.15: Nordfassade des Tempels der Bauschicht II im nordöstlichen Teil der Akropolis von Tell Leilan/Altassyrische Zeit (Weiss 1997, Abb. 4).
Abb. 3.15: Nordfassade des Tempels der Bauschicht II im nordöstlichen Teil der Akropolis von Tell Leilan/Altassyrische Zeit (Weiss 1997, Abb. 4).
Ein weiteres Beispiel für die hohe Komplexität des Baudekors der altorientalischen Monumentalarchitektur repräsentieren die im Gegensatz zu den Stiftmosaiken durch alle Epochen hindurch bis in die Spätzeit nachweisbaren Pfeiler-Nischen-Gliederungen der Gebäude. Auch hier ist ein früher Höhepunkt der Entwicklung bereits während der Späturukzeit fassbar, in der die Arrangements vorzugsweise in kleinformatigen Riemchenziegeln ausgeführt worden sind.141 Die vielgestaltigen Wandgliederungen aus Vor- und Rücksprüngen zeugen von einer außerordentlichen Meisterschaft in der Bautechnik und lassen sich ähnlich wie die Stiftmosaiken nur vor dem Hintergrund einer Beteiligung von Spezialisten sowohl an der Bauplanung als auch der Bauausführung verstehen (Abb. 3.14).
Aus jüngeren Epochen der altorientalischen Geschichte sind als Belege eines ähnlich hohen Grads in der Verfeinerung des Ziegeldekors, die wiederum die Mitwirkung spezialisierter Fachkräfte am Planungs- und Bauprozess reflektieren, schließlich noch diverse Fassadengliederungen aus spiraligen Halbsäulen und stilisierten Palmstämmen zu nennen. Die Gliederungen wurden an Bauten des frühen 2. Jahrtausends v. Chr. in Ur, Larsa, Tell Rimah (Abb. 3.57) und Tell Leilan (Abb. 3.15) beobachtet.142
Weder für die Stiftmosaiken, noch für die Pfeiler-Nischen-Gliederungen oder die Ziegeldekore aus Halbsäulen und Palmstämmen ist bislang jedoch näher erforscht worden, inwieweit ihre genaue Konzeption bereits während eines frühen Zeitpunkts der Gebäudeplanung erfolgt ist oder ob sie primär in die Verantwortung der mit der Bauausführung betrauten Baumeister auf der Baustelle fiel.143 Zumindest bei den Pfeiler-Nischen-Gliederungen dürfte aber letzteres der Regelfall gewesen sein, wie die Untersuchungen von R. Eichmann zur urukzeitlichen Architektur von Uruk und von H. Schmid an der spätbabylonischen Zikkurrat von Babylon ergeben haben.144 Auch die Miniaturziegel aus dem „Eastern Shrine“ der ubaidzeitlichen Schicht XIII von Tepe Gawra scheinen für die Pfeiler-Nischen-Gliederungen auf einen eher späten Zeitpunkt des detaillierten Entwurfs in Verbindung mit der Festlegung der Mauerverbände zu deuten.145
3.4.2 Bauplanung und Wissen um Umweltbedingungen
In der Architektur des Alten Orients resultierten nicht wenige statische Probleme aus den spezifischen Materialeigenschaften, namentlich der unzureichenden Feuchtigkeitsresistenz, des wichtigsten Baustoffes, i. e. des ungebrannten Ziegels. Insofern spielte das Wissen um Umweltbedingungen in der Bauplanung stets eine hervorragende Rolle.
Einen Bereich, in dem es unmittelbar zum Tragen gekommen ist, bildet der Fundamentbau. Vornehmlich haben die Fundamente altorientalischer Gebäude dazu gedient, den aufgehenden Mauern stabile Auflageflächen zu verschaffen. Gerade in über längere Zeit hinweg besiedelten Orten war der Untergrund in Höhe der obersten Ablagerungen oft nicht in der Weise verdichtet, dass Absenkungen zuverlässig ausgeschlossen werden konnten. Von daher gründete man die Häuser vielfach nicht einfach zu ebener Erde, sondern errichtete Fundamentplatten aus Ziegeln, setzte die Mauern der Neubauten auf die gleichmäßig abgeglichenen Stümpfe von Vorgängerbauten, schachtete Baugruben aus oder legte Fundamentgräben an.
Abb. 3.16: „Urplan“ des Alten Palastes in Assur/Altassyrische Zeit (Preusser 1955, Tf. 3).
Abb. 3.16: „Urplan“ des Alten Palastes in Assur/Altassyrische Zeit (Preusser 1955, Tf. 3).
In der urukzeitlichen Monumentalarchitektur, wie sie insbesondere aus dem Eannabezirk von Uruk bekannt ist, aber auch später noch stellen Fundamentplatten aus Lehmziegeln eine charakteristische Konstruktionsweise dar. Ein bekanntes Beispiel repräsentiert der sog. „Tempel C“. Zugleich ist am Steinstifttempel von Uruk für die Späturukzeit ebenfalls schon die Gründung in einer tiefen Baugrube belegt, wie sie in jüngerer Zeit immer wieder auftreten, so etwa am frühdynastischen Tempeloval von Hafaği (erste Hälfte des 3. Jt. v. Chr.). Auch in dem Baubericht des Gudea von Lagaš aus dem späten 3. Jahrtausend v. Chr. wird geschildert, wie für das Eninnu eine Baugrube ausgehoben und eine aufwendige Fundamentkonstruktion angelegt wird. Offenkundig spielten hierbei neben baupraktischen auch kultische Erfordernisse eine zentrale Rolle. Fundamentgräben schließlich kennt man bspw. vom „Urplan“ des Alten Palastes in Assur (Abb. 3.16), der an den Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. datiert.146
Gelegentlich konnten die Fundamentkonstruktionen allerdings neben der Standsicherheit auch der Entwässerung dienen. Eine besonders aufwendige Technik ist aus dem mittelbronzezeitlichen Königspalast von Qatna (Abb. 3.17) bezeugt, einem der größten und eindrucksvollsten Paläste der Bronzezeit in Vorderasien, dessen Nutzung bis in die Spätbronzezeit andauerte (ca. 18.–14. Jh. v. Chr.). Der Bau, dessen Freilegung noch nicht abgeschlossen ist, steht trotz einiger auffälliger Eigenheiten in der Tradition babylonischer Paläste. Er zeichnet sich durch stellenweise 4–5 m tiefe und häufig mehrere Meter breite Fundamentierungen aus, die im Detail in einem Aufsatz von G. Elsen-Novák und M. Novák behandelt worden sind.147
Der Bauplatz des Palastes bestand in einem plateauartigen Felssporn, der auf drei Seiten von Niederungen umgeben war. Auf dem Sporn hatte sich schon in der Frühbronzezeit (3. Jt. v. Chr.) ein in seinen einzelnen Bereichen unterschiedlich hoch anstehender Siedlungshügel gebildet. Da man die Mauerfundamente des Palastes grundsätzlich bis zum gewachsenen Boden hinabführen wollte, mussten in den hoch anstehenden Teilen des Siedlungshügels sehr tiefe Baugruben ausgehoben werden, während in anderen Bereichen die Fundamentmauern teilweise oberirdisch bis auf die Höhe des vorgesehenen Fußbodenniveaus aufgemauert worden sind.
In den Gruben konnten noch die sukzessive erhöhten Arbeitsflächen nachgewiesen werden, von denen aus die Fundamente angelegt worden sind. Weiterhin wurden in den Fundamentbereichen Konstruktionstreppen sowie die Hufabdrücke von Lasttieren festgestellt, die offenbar das Material befördert haben. Schließlich konnte auch aufgezeigt werden, dass es während der Ausführung der Fundamente zu Planänderungen gekommen ist, die sehr weitreichende Modifikationen des Palastgrundrisses nach sich gezogen haben.148
Es wurden drei verschiedene Konstruktionsweisen der Fundamente beobachtet.149 Alle drei bestehen im Kernbereich aus Lehmziegelmauern. Das Lehmziegelmauerwerk ruhte jeweils auf einer Steinunterfütterung aus ein bis drei Lagen Kalkstein und Basalt, die ihrerseits auf dem natürlichen Fels aufsaß.
Abb. 3.18: Schematische Skizze des Aufbaus eines Fundaments im Königspalast von Qatna/Alt- bis mittelsyrische Zeit (Elsen-Novák and Novák 2006b, Abb. 6).
Abb. 3.18: Schematische Skizze des Aufbaus eines Fundaments im Königspalast von Qatna/Alt- bis mittelsyrische Zeit (Elsen-Novák and Novák 2006b, Abb. 6).
Bei der ersten Variante hat man die Fundamentmauern mit einer einreihigen Steinverblendung aus kleineren Bruchsteinen versehen, die mittels eines kompakten Lehmestrichs verbunden waren. Sowohl die Fundamentmauern als auch die Verkleidungen zeigten eine auffällige Böschung. Diese Technik trat v. a. in jenen Bereichen des Palastes auf, in denen sich zuvor im Terrain Senken befunden hatten.
Bei der zweiten Variante, die gleichfalls in Senkenbereichen festgestellt wurde, waren die Fundamentmauern von ca. 30–40 cm starken Steinsetzungen flankiert, die von einem leichteren Lehmmörtel gehalten wurden. Die Böschung fiel hier deutlich geringer aus. Anscheinend ist diese Bauweise nur bei jüngeren Um- und Einbauten am Palast zur Anwendung gekommen.
Die dritte Variante war die aufwendigste (Abb. 3.18). Sie dominiert insbesondere im Zentrum des Palastes, d. h. in Höhenbereichen mit tiefen Fundamentgruben. Hier bildete die eigentliche Fundamentmauer eine Art Kernmauer, die auf beiden Seiten von rund 0,6–1 m breiten, mit Steinen gefüllten Schächten flankiert war. Die Steine sind in den Schächten ohne Bindungsmaterial aufgeschichtet worden und wurden auf der der Kernmauer gegenüber liegenden Seite jeweils von einer schmalen Schalungsmauer aus Lehmziegeln gestützt. Ebenso wie die Fundamentmauern saßen die Schalungsmauern und Schächte bei dieser Konstruktionsweise auf den zuvor beschriebenen Steinunterfütterungen.
An verschiedenen Stellen im Palast ließ sich beobachten, dass die Fußböden der Räume über die Schalungsmauern und Steinschächte hinwegzogen und an den Außenkanten der Kernmauern abschlossen. Das aufgehende Mauerwerk, das in vielen Räumen ebenfalls noch mit einer Verkleidung aus Kalksteinorthostaten zum Schutz der Mauerfüße versehen war, saß also exakt über den Kernmauern und besaß deren Breite.
Offenkundig hat bei allen drei Fundamentkonstruktionen im Palast von Qatna der Zweck der Steinverblendungen, Steinsetzungen und Steinschächte darin bestanden, eine ausreichende Drainage und Belüftung der Fundamentmauern sicher zu stellen. Sie sollten hierdurch vor Schäden infolge von Grund- und Regenwassereinwirkungen geschützt werden.
Da bei der dritten Konstruktionsweise die Steine ohne Mörtelmasse aufgeschichtet werden konnten, war sie zugleich die effektivste. Die Feuchtigkeit, respektive das Grund- und Regenwasser, konnte hier am schnellsten entweichen. Möglicherweise wurde das Wasser in einen tiefliegenden Sammler im Nordwestteil des Palastes geleitet.150
Bislang sind die aufwendigen Fundamentkonstruktionen des Palasts von Qatna im Alten Orient ohne unmittelbare Parallele, wenngleich Mauerbettungen und Rinnen mit Kiesfüllungen zum Schutz gegen Feuchtigkeit auch in Mari beobachtet worden sind.151 In ihrer technischen Raffinesse lassen die Fundamentierungstechniken in Qatna jedenfalls deutlich erkennen, dass die Baumeister auf diesem Gebiet bereits über reiche Erfahrungen verfügt haben müssen.
Durch Witterungseinflüsse, v. a. Regen und Spritzwasser, aber auch aufsteigende Feuchtigkeit und auskristallisierende Salze besonders gefährdete Bereiche der altorientalischen Lehmziegelbauten bildeten weiterhin die Mauerfüße. Bei der Gebäudeplanung wurden deshalb verschiedentlich Vorkehrungen getroffen, die einer Beschädigung und Schwächung jener äußerst sensiblen Mauerbereiche entgegenwirken sollten.
Üblicherweise handelt es sich hierbei um eine strukturell vom aufgehenden Mauerwerk und häufig auch den Fundamenten verschiedene Ausgestaltung der Mauersockel. Vielfach bestand sie in der Verwendung eines besonderen Baumaterials wie bspw. gebrannter Ziegel oder Stein. Letzteres ist etwa an späturukzeitlichen Wohnhäusern aus Habuba Kabira bezeugt.152
Abb. 3.19: Mutmaßlicher bewässerter Garten (sog. „Großer Hof“) mit Wasserbecken und Zuleitungskanal aus Backsteinen im Eannabezirk von Uruk/Urukzeit (Eichmann 2007, Plan 79).
Abb. 3.19: Mutmaßlicher bewässerter Garten (sog. „Großer Hof“) mit Wasserbecken und Zuleitungskanal aus Backsteinen im Eannabezirk von Uruk/Urukzeit (Eichmann 2007, Plan 79).
Meist waren die Sockel breiter bemessen als die darüber befindlichen Wandpartien. Allerdings konnten Sockel aus Backsteinen allein das Aufsteigen von Salzen nicht verhindern. Dies ermöglichte erst der Einsatz von Bitumen als Mörtel respektive Verputz, da Bitumen eine wasserundurchlässige äußere Barriere bildet.
An Bauten in Nippur hat man gleichfalls Backsteinlagen zwischen Fundament und aufgehendem Mauerwerk als Sperrbahnen gegen Nässe („damp courses“) eingezogen, die aber unterhalb des Fußbodenniveaus lagen und insofern keine Mauersockel darstellten.
Abb. 3.20: Abwasserleitung aus Tonröhren und steingedecktem Kanal in Habuba Kabira-Süd/Urukzeit (Strommenger 1980, Abb. 28).
Abb. 3.20: Abwasserleitung aus Tonröhren und steingedecktem Kanal in Habuba Kabira-Süd/Urukzeit (Strommenger 1980, Abb. 28).
Von den genannten technischen Vorkehrungen sind ferner diverse, gewöhnlich aus Backsteinen bestehende Arten der äußeren, bisweilen auch inneren Verkleidung von Lehmziegelmauern und -mauerfüßen zu trennen, die indes ebenfalls maßgeblich dem Schutz der Lehmziegelkerne gegen Nässeeinwirkungen gedient haben dürften. In der mesopotamischen Architektur finden sich mannigfache Belege hierfür ab dem Ende des 3. sowie im 2. und 1. Jahrtausend v. Chr. Manchmal hat man sich bei stärkeren Schäden an den Mauerfüßen auch einfach damit beholfen, dass man das Begehungsniveau erhöht hat, so dass die unteren Wandpartien in den Fundamentbereich rückten.153
Abb. 3.21: Sickerschacht eines Wohnhauses im Scribal Quarter von Nippur/Frühdynastische bis Ur III-Zeit. Mit freundlicher Genehmigung des Oriental Institute of the University of Chicago.
Abb. 3.21: Sickerschacht eines Wohnhauses im Scribal Quarter von Nippur/Frühdynastische bis Ur III-Zeit. Mit freundlicher Genehmigung des Oriental Institute of the University of Chicago.
Die Bauplanung vor dem Hintergrund des Wissens um Umweltbedingungen umfasst auch das weite Feld der Kanalisation, d. h. der Wasserzufuhr und Entwässerung, in altorientalischen Siedlungskontexten. Im einzelnen bestehen die Baustrukturen aus Ziegelkanälen, Tonrohren und Tonrinnen sowie Steinkanälen und Sickerschächten, die sowohl in der Privat- wie auch in der öffentlichen Architektur in großer Zahl auftreten. Kombinationen unterschiedlicher Kanalformen sind vielfach bezeugt. Das archäologische Quellenmaterial aus Mesopotamien, Syrien und Anatolien ist ausführlich in einer Monographie von C. Hemker behandelt worden.154
Die Vorrichtungen zur Entsorgung von Gebrauchs- und Regenwasser überwiegen deutlich gegenüber denen der Frischwasserversorgung. Als Entwässerungsanlagen begegnen am häufigsten Sickerschächte aus Terrakotta, zusammengesetzt aus mehreren übereinander liegenden Ringsegmenten und einer Einlauftrommel, sowie Ziegelkanäle. Die Installation von Sickerschächten mit ihren begrenzten Aufnahme- und Ableitungskapazitäten bot sich allerdings primär im südlichen Zweistromland an. Zum einen waren in dieser regenarmen Region gemeinhin lediglich überschaubare Wassermengen zu entsorgen und zum anderen ließen sich die Sickerschächte verhältnismäßig leicht in den weichen Untergrund des Alluviums eintiefen.
Abb. 3.22: Sammler aus Backsteinen im Bereich des Northern Palace von Ešnunna/Akkadzeit. Mit freundlicher Genehmigung des Oriental Institute of the University of Chicago.
Abb. 3.22: Sammler aus Backsteinen im Bereich des Northern Palace von Ešnunna/Akkadzeit. Mit freundlicher Genehmigung des Oriental Institute of the University of Chicago.
Tonrohrleitungen und Tonrinnen verdankten ihre Beliebtheit einer Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten als Unterführungs-, Verbindungs-, Überbrückungs- und nicht zuletzt Zuleitungselemente. So wurden Tonrohre als geschlossene Zuleitungen für Frischwasser bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. geschätzt, wie z. B. die Befunde in Uruk zeigen. Die Errichtung von Steinkanälen stand dagegen wieder in unmittelbarem Zusammenhang mit den geologischen Gegebenheiten vor Ort. Im vergleichsweise steinarmen Südmesopotamien etwa sind sie kaum zum Einsatz gekommen, wohingegen sie im Norden und Westen sehr oft anzutreffen sind.155
Als Vorform horizontaler Entwässerungsanlagen lassen sich einfache Bodenrinnen identifizieren, die ebenso wie die ersten Steinkanäle bereits ab prähistorischer Zeit belegt sind. Ein Entwicklungssprung ist in der späten Ubaid- und insbesondere der Urukzeit feststellbar. So können während des späten 4. Jahrtausends v. Chr. im Eannabezirk von Uruk sorgfältig vorausgeplante und technisch ausgereifte Kanalisationsnetze aus Backsteinkanälen (Abb. 3.19) beobachtet werden.156 Auch U-förmige Tonrinnen kamen zum Einsatz. Zur gleichen Zeit sind in den südlich geprägten Fundorten Habuba Kabira und Ğebel Aruda am mittleren Euphrat im Häuser- und Straßenbereich hoch entwickelte Anlagen der Be- und Entwässerung in Gestalt von Steinkanälen, Tonrinnen und Tonröhren bezeugt (Abb. 3.20). Neben öffentlichen Gebäuden und Wohnhäusern waren gleichfalls Werkstätten, in denen mit Flüssigkeiten gearbeitet wurde, an die Kanalisation angeschlossen.
Wie die Befunde aus Uruk spiegeln auch die Anlagen in Habuba Kabira und Ğebel Aruda den voranschreitenden Urbanisierungsprozess im 4. Jahrtausend v. Chr. wider und deuten auf eine Einbeziehung von Kanalisationsnetzen in städtebauliche Planungen. Es hatte sich gezeigt, dass eine ungeregelte individuelle Entsorgung innerhalb der komplexer gewordenen Siedlungen nicht mehr möglich war. Offensichtlich verfügte man auch bereits über Kenntnisse wichtiger hydraulischer Grundprinzipien, etwa des Zusammenhangs zwischen Gefälle und Abflußgeschwindigkeit.157
Charakteristisch für die Entwicklung im südmesopotamischen Schwemmland ab dem 3. Jahrtausend v. Chr. ist ein bedeutender Anstieg der Sickerschächte, die eine Vertikalentsorgung im Hof, d. h. im Privatbereich, erlaubten. Den städtebaulichen Hintergrund bildete eine steigende Bebauungsdichte in den urbanen Zentren. Belege kommen bspw. aus dem Dijala-Gebiet sowie aus Ur, Nippur (Abb. 3.21) und Babylon. Zugleich gab es aber auch große, aus Backsteinen gemauerte Sammler in den Straßenbereichen der Siedlungen, die nach dem Prinzip des konvergierenden Netzes angelegt waren und die Abwässer kleinerer Nebenstränge aus den anliegenden Gebäuden aufnahmen. Derartige Sammler hat man z. B. in Ešnunna freilegen können (Abb. 3.22). In der Regel dürften sie die Abwässer in Bereiche außerhalb der Stadt bzw. in nahegelegene Flüsse oder aber auch zur Bewässerung auf Felder und Gärten geleitet haben.
Aus dem nordmesopotamisch-syrischen Raum sind im 3. Jahrtausend v. Chr. vor allem Steinkanäle bezeugt, so etwa aus Tell Chuera und Mari. Auch im 2. und 1. Jahrtausend v. Chr. dominieren im Norden und Westen angesichts des vielerorts steinigen Untergrunds horizontal angelegte Entwässerungssysteme aus Steinen, Tonrohren und Ziegeln. Als Beispiele lassen sich Assur und Ugarit nennen. Sickerschächte begegnen nur vereinzelt, so etwa im Palast von Mari, was zweifellos auch auf den größeren Regenreichtum in Nordmesopotamien und Syrien zurückzuführen ist. Sammler aus Backsteinen kennt man z. B. aus Nuzi und Assur.158
Bloß am Rande sei noch auf den Zusammenhang von Bauplanung und Erdbebentätigkeit verwiesen. Im südlichen Zweistromland treten aufgrund der geotektonischen Gegebenheiten keine Erdbeben auf. Erdbeben hat es im Alten Orient aber durchaus gegeben, so sind sie z. B. für Assyrien und Dur-Šarrukin durch neuassyrische Quellen aus der Zeit Sargons II. dokumentiert. Sie haben auch Schäden an Gebäuden ausgelöst, so etwa in mittelassyrischer Zeit am Ištar-Tempel von Ninive. Jedoch ist bislang noch kaum erforscht, inwieweit die Erdbebensicherheit betreffende Vorkehrungen in die altorientalische Bauweise eingeflossen sind.159
3.4.3 Entwurfsleitende Motive
Generell können Bauwerke auf drei Kausalkategorien zurückgeführt werden, die H. Schmid (1999, 188) wie folgt definiert hat:
1Funktionale Forderungen, die man an das Bauwerk stellt,
2Konstruktive Möglichkeiten, über die man verfügt,
3Formale Vorstellungen, die man verwirklichen will.
Auf der Grundlage dieser knappen Formel verständigen sich praktizierende Architekten bis heute über die Vielfalt der Faktoren, deren Produkt das fertige Gebäude ist. Die Faktoren stehen in einem Spannungsverhältnis, das sich je nach der Gewichtung durch die Planer und Bauausführenden ändert. Zugleich implizieren die Kausalkategorien durchaus auch Elemente, die aus spezifischen Kulturtraditionen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen sowie den örtlichen Gegebenheiten resultieren. An dieser Stelle ist ein näherer Blick auf die besondere Situation im Alten Orient zu werfen, um die Motive, die die dortige Bauplanung bestimmt haben, noch etwas deutlicher hervortreten zu lassen.
Nachweislich orientieren sich bei altorientalischen Bauten Entwurf und Bauausführung in sehr vielen Fällen an bestimmten architektonischen Traditionen, Konventionen und Typen, die innerhalb eines gewissen Spielraums variiert werden konnten. Klassische Beispiele bilden das Mittelsaalhaus, wie man es etwa aus der Architektur der Ubaid- und Urukzeit kennt (Abb. 3.5, 3.12, 3.25, 3.51), die ab der Ur III-Zeit bezeugte Breitraumcella (Abb. 3.57) und das bābānu-bītānu-Schema aus Tor- und Wohnbezirk im neuassyrischen Palastbau (Abb. 3.26, 3.31).160 Gerade in der deutschen Bauforschung hat die typologische Analyse der altorientalischen Architektur stets eine zentrale Rolle gespielt.161
Gleichzeitig ist auf die Beschränkungen hinzuweisen, denen die Planer oft ausgesetzt waren. Hier sind etwa die Größe und der Zuschnitt der bebaubaren Parzelle oder auch ältere Bauten und Bauteile zu nennen, auf die Rücksicht zu nehmen war. Nicht selten orientierte man sich mit dem Neubau an der Grundrissgestalt eines Vorgängers, dessen Mauern auf einheitlichem Niveau gekappt und anschließend als Fundamente benutzt wurden. Dahinter konnten, wie bereits angesprochen, neben pragmatischen auch religiöse Gründe stehen, denn Baubefunde und Texte dokumentieren, dass eine Grundregel bei der Restaurierung eines altorientalischen Tempels darin bestand, den Bauplatz des Vorgängers zu respektieren und möglichst nicht zu verändern, um keinen göttlichen Unmut zu erregen. In der Praxis bereitete die Einhaltung dieser Regel aber bisweilen Schwierigkeiten.162
Die funktionalen Anforderungen, denen ein neu zu errichtendes Bauwerk entsprechen sollte, haben die Bauplanungen selbstredend ganz maßgeblich bestimmt. Zuweilen, bspw. wenn Bauinschriften existieren, liegen diese Anforderungen offen zutage, häufig jedoch, so z. B. bei mehrdeutigen Grundrissmerkmalen und fehlenden Rauminventaren, können sie aus dem archäologischen Befund nicht mehr im Detail rekonstruiert werden. Die funktionale Bestimmung der späturukzeitlichen Bebauung im Eannabezirk von Uruk etwa ist in großen Teilen unklar.163 Man behilft sich dann innerhalb eines sehr groben Interpretationsrasters („Sonderbau“, „öffentliches Gebäude“, etc.) mit der Festlegung einiger Grundfunktionen, die sich aus dem architektonischen Kontext sowie bestimmten Parametern wie Größenkategorien, Raumformen, Erschließungsmustern usf. ableiten lassen.
Eine Beeinflussung der Bauplanung durch die konstruktiven Möglichkeiten lässt sich v. a. am Beispiel der Raumbreiten aufzeigen. Diese waren in Mesopotamien, wo die Bauten zumeist mit Flachdächern gedeckt worden sind, generell durch die Abmessungen der jeweils verfügbaren, aus heimischen oder importierten Hölzern gefertigten Dachbalken vorgegeben, sofern man nicht zusätzliche Träger einbauen wollte.164
Die Verwirklichung formaler Vorstellungen nahm insbesondere in der öffentlichen Architektur einen wichtigen Part ein, da dort die größten finanziellen Mittel zur Disposition standen. Genauere Informationen zu den entwurfsleitenden Motiven liefern in diesem Zusammenhang die seit der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. in reicher Zahl vorliegenden Inschriften der Herrscher.
Nach außen bekundeter Antrieb der Bauaktivitäten, namentlich im Bereich des Tempelbaus, war zumeist das fromme Bestreben, die Götter zufrieden zu stellen, wie es beispielhaft die große Bauinschrift des Gudea (Abb. 3.6) illustriert.165
Allerdings verfolgten verschiedene Machthaber, darunter nicht zuletzt die assyrischen Könige mit ihren z. T. gigantischen Städte- und Palastbauprojekten daneben auch sehr viel profanere Absichten, die mit einem ausgeprägten individuellen Gestaltungsanspruch einhergingen. Man wollte sich prächtige und weitläufige Residenzen zum eigenen Ruhm und Vergnügen schaffen. Schon früh konkurrierte so der assyrische Palastbau mit dem gleichzeitigen Tempelbau. Sehr deutlich geht dies aus dem Namen hervor, den Tukulti-Ninurta I. dem Palast in seiner neuen Residenzstadt Kar-Tukulti-Ninurta verliehen hat. Er lautet „Palast der Gesamtheit“ und entspricht damit dem Namen des Assur-Tempels, der „Tempel der Gesamtheit“ geheißen hat.
Abb. 3.23: Zikkurrat des Urnammu im Nannaheiligtum von Ur/Ur III-Zeit. Rekonstruktion H. Schmid (Schmid 1995, Plan 7).
Abb. 3.23: Zikkurrat des Urnammu im Nannaheiligtum von Ur/Ur III-Zeit. Rekonstruktion H. Schmid (Schmid 1995, Plan 7).
Sanherib (704–681 v. Chr.) nennt seinen Palast in Ninive „Palast ohnegleichen“ und gibt damit den Ehrgeiz zu erkennen, die Palastanlagen all seiner Vorgänger zu übertreffen. Andere Gebäudenamen wie „Palast der Herzensfreude“ oder „Palast meiner herrschaftlichen Erholung“ betonen stärker die Aspekte der Lustbarkeit und Rekreation. Von Assurbanipal (668–631/27? v. Chr.) schließlich erfahren wir, dass er das bīt ridûti, den „Kronprinzenpalast“ von Ninive, hat restaurieren lassen, da es der Aufenthaltsort seiner jungen Jahre war, mit dem ihn viele glückliche Erinnerungen verbanden.166
Indes ist die Anlage neuer Residenzstädte, wie sie aus mittel- und neuassyrischer Zeit in mehreren Beispielen überliefert ist, gewiss auch aus pragmatischen Gründen erfolgt. So dürfte Tukulti-Ninurta I. Kar-Tukulti-Ninurta auch in der Absicht gegründet haben, sich dem übermächtigen Einfluss der Priesterschaft in der alten Hauptstadt Assur zu entziehen. Und Sanherib mag die assyrische Hauptstadt aus dem erst kurz zuvor errichteten Dur-Šarrukin u. a. deswegen nach Ninive verlegt haben, weil es dort eher möglich war, eine ausreichende Wasserversorgung sicher zu stellen. Aus den Texten erfährt man hierüber jedoch so gut wie nichts.167
Politische Motive bei der Planung und Durchführung öffentlicher Bauvorhaben sind ihrerseits schon in der Architektur aus der Epoche der frühen Staatenbildung, wie sie uns im 4. Jahrtausend v. Chr. exemplarisch in den beiden großen Kultbezirken von Uruk (Abb. 3.13, 3.14, 3.19, 3.36, 3.50) entgegentritt, erkennbar.168 Auch der von Urnammu (2112–2095 v. Chr.) außer in seiner Hauptstadt Ur (Abb. 3.23) gleichfalls in mehreren anderen südmesopotamischen Orten wie Uruk, Eridu und Nippur durchgeführte, einer neuen architektonischen Konzeption folgende Zikkurratbau hat sicherlich nicht allein religiösen Zwecken, sondern ebenso einer augenfälligen Machtdemonstration des neuen Zentralherrschers in den verschiedenen Städten seines Reiches gedient.169
Explizit wird die propagandistische Absicht in den Bauinschriften der assyrischen Herrscher artikuliert. So betont Assurnasirpal II. (883–859 v. Chr.), dass die Reliefausstattung an den Wänden seiner neuen Residenz in Kalhu den Zweck verfolge, seine kriegerischen Eroberungen und Heldentaten zu Wasser und zu Land sichtbar widerzuspiegeln. Offenkundig richtete sich die Botschaft nicht primär an die Götter oder die Nachwelt, wie im Fall der Gründungsinschriften, die gemeinhin bis zu ihrer Freilegung bei Restaurierungsarbeiten den Blicken der Menschen verborgen blieben. Vielmehr wollte der König seine Zeitgenossen erreichen, beeindrucken und ggf. auch einschüchtern, und zwar konkret diejenigen Personen, die Zugang zu den mit Orthostatenreliefs ausgestatteten Bereichen des Palastes hatten. Hierbei handelte es sich in erster Linie um den Hofstaat und die Elite des Reiches sowie hohe Beamte aus den Provinzen und Delegationen aus den tributpflichtigen Gebieten an den äußeren Reichsgrenzen.
Noch deutlicher als bei Assurnasirpal II. tritt das herrscherliche Anliegen, die Mitwelt durch gezielte Machtdemonstrationen auf dem Gebiet der Architektur und der Bauaustattung zu beeindrucken, in den späten neuassyrischen Bauinschriften aus dem 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. in Erscheinung.170
3.4.4 Planungsniveau und Planungstiefe
Darin, dass die Gründungsurkunden altorientalischer Bauten regelmäßig die Vollendung der in ihnen angesprochenen Bauprojekte vorwegnehmen, kann man bereits erkennen, dass öffentliche Gebäude ein beträchtliches Maß an Vorausplanung implizierten. Anders hätten die Bauvorhaben in den Dokumenten nicht schon in so vielen Einzelheiten beschrieben werden können.
Die bislang detaillierteste Untersuchung zur Planung und Ausführung eines monumentalen altorientalischen Bauwerks liegt für Etemenanki, die spätbabylonische Zikkurrat von Babylon, vor. Der im späten 7. und in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. errichtete babylonische Turm stellt eines der bekanntesten Gebäude aus dem alten Mesopotamien dar. H. Schmids Analyseergebnisse, die in eine neue Rekonstruktion der Zikkurrat einmündeten (Abb. 3.24), beruhen auf den Befunden zweier Ausgrabungen, unterschiedlichen Schriftquellen sowie einer umfassenden Studie zu den Aufgängen mesopotamischer Hochterrassen und Stufentürme.171
Abb. 3.24: Zikkurrat im Mardukheiligtum von Babylon/Spätbabylonische Zeit. Rekonstruktion H. Schmid; Modell H. Hallmann (Foto H. -D. Beyer in Schmid 1995, Tf. 41).
Abb. 3.24: Zikkurrat im Mardukheiligtum von Babylon/Spätbabylonische Zeit. Rekonstruktion H. Schmid; Modell H. Hallmann (Foto H. -D. Beyer in Schmid 1995, Tf. 41).
Der Ruine des Tempelturms Etemenanki wurden lediglich zwei kurze Feldforschungen gewidmet. Im Jahre 1913, bei der einzigen Gelegenheit, an die normalerweise unter dem Grundwasserspiegel liegenden Teile zu kommen, beschränkte sich R. Koldewey darauf, den Grundriss der aus einem Mittel- und zwei Seitenläufen bestehenden Treppenanlage und des Backsteinmantels der Zikkurrat zu klären sowie den Anschluss des Mantels an den Lehmziegelkern zu erkunden. Er ahnte damals noch nicht, wie unterschiedlich man diesen Befund interpretieren und mit den schriftlichen Quellen verknüpfen konnte.
Später erkannte Koldewey die Notwendigkeit, auch das aus Lehmziegeln bestehende Kernmassiv der Zikkurrat genauer zu erforschen. Dies geschah aber erst 1962 unter der Leitung von Schmid. Zwar blieb die Sondage auf die über dem Wasser anstehenden Teile der Zikkurratruine begrenzt, doch konnte das Verhältnis des Lehmziegelkerns zum Backsteinmantel bestimmt werden. Zudem erbrachte Schmid den Beweis, dass der letzte Tempelturm in Babylon, d. h. die spätbabylonische Zikkurrat mit dem Backsteinmantel in Asphaltverguss, zwei Vorläufer hatte und gewaltsam zerstört worden ist.
Die im Zikkurratmassiv erfassten Vorgängerbauten können in die neuassyrische und sehr wahrscheinlich altbabylonische Zeit datiert werden. In ersterem Fall steht Asarhaddon (680–669 v. Chr.), der das von seinem Vater Sanherib verwüstete Babylon wieder aufbaute, aufgrund textlicher Zeugnisse als Bauherr fest. Dass daneben auch schon der älteste Zustand des Bauwerks, der sich in dem Lehmziegelkern erhalten hat, keine niedrige Terrasse, sondern ein höherer Stufenturm gewesen sein muss, bezeugen die Schilflagen in seinem Innern. Sie sollten ungleichmäßige Setzungen verhindern. Das frühe Massiv hat vermutlich einen quadratischen Grundriss von ca. 65 m Seitenlänge besessen. Asarhaddon hat den Kern nach den Zerstörungen Sanheribs mit einem Lehmziegelmantel umgeben. Er wurde mit Holzankern an das Massiv angeheftet und wies, nach einem bei der Grabung beobachteten „Tonbett“ zu urteilen, eine Länge und Breite von etwa 73 m auf.172
Für Schmid bot sich an, den Befund beider Feldforschungen im Zusammenhang aufzuarbeiten, da erkennbar war, dass sich die Dokumentationen ergänzen würden. Im Zuge der Auswertung konnte er darüber hinaus aber auch das Verhältnis der Ruine zu einem bereits 1876 bekannt gewordenen und 1913, zeitgleich mit den ersten Ausgrabungen an Etemenanki, umfassend edierten Keilschrifttext eruieren, der den Tempelturm beschreibt und die primäre Informationsquelle zu seinem Aufbau und offenbar auch zu seinem Hochtempel ist. Es handelt sich um die nach ihrem Kopisten benannte Anubelšunu-Tafel. Mit ihrer Veröffentlichung war die Diskussion um die Rekonstruktion der Zikkurrat von Babylon auf eine neue Grundlage gestellt worden.173
Die Anubelšunu-Tafel repräsentiert die 229 v. Chr. in der Regierungszeit Seleukos II. von dem Schreiber Anubelšunu angefertigte Kopie eines Textes nicht genau bekannten Alters, dessen Gegenstand der Tempel Esagila und der Stufenturm Etemenanki sind. Der Inhalt war nur für „Weise“, d. h. wohl Fachleute, bestimmt. Um die Bearbeitung der mit zahlreichen, nicht leicht verständlichen Maßangaben versehenen Tafel haben sich bis heute eine Reihe von Assyriologen bemüht. Dabei standen neben sprachlichen, bestimmte Baufachausdrücke betreffenden Schwierigkeiten insbesondere metrologische Probleme im Mittelpunkt.
Die in der Anubelšunu-Tafel vorkommenden Längenmaße basieren auf der babylonischen Elle ammatum, deren gängiger absoluter Wert bei 50 cm liegt und 30 ubānu, d. h. Finger(breiten), entspricht. Allerdings differenziert der Schreiber in der Bezeichnung der Elleneinheiten. Opinio communis ist, dass den Angaben im fünften Abschnitt der Tafel eine Elle von anderthalbfacher Größe der Normalelle zugrunde liegt. Die Maße des Baukörpers hat man einmal im Sechzigfachen, sonst im Zwölffachen der Elle, d. h. in nindan, ausgedrückt.
Ein Kardinalproblem der Anubelšunu-Tafel bestand stets in der Unsicherheit darüber, ob der sechste Abschnitt den Tempel Esagila oder den Hochtempel auf dem Turm beschreibt. Den Raummaßen ist dort keine Maßeinheit beigefügt, nur für ein großes Bett werden explizit Ellenmaße genannt. Man hat deshalb lange darüber gestritten, ob auch die übrigen Maße in Ellen oder als Sechzigstel des nindan, d. h. als Fünftelellen, zu verstehen sind. Nur dann nämlich lassen sie sich auf den Hochtempel beziehen. Dass in der Tat Sechzigstel des nindan gemeint gewesen sein dürften, kann Schmid jetzt anhand eines annähernd zeitgenössischen Textes mit Maßangaben, die offenkundig in Fünftelellen zu lesen sind, demonstrieren. Gegenüber der Elle und ihrer Untereinheit Finger respektive ubānu bildete die Fünftelelle für die Baumeister eine besser geeignete Maßeinheit, um sowohl im Hausbau übliche Mauerstärken als auch Raumgrößen auszuweisen.
Weiterhin ist evident, dass in der Kopie des Anubelšunu im siebten Abschnitt bei der Beschreibung des Turms die Zeile für die sechste Terrasse ausgefallen ist und ergänzt werden muss. Der vieldiskutierte Begriff šaḫūru aber bezeichnet gemäß Schmid nicht, wie verschiedentlich angenommen, ein separates „Oberzimmer“, sondern wohl eher den spezifischen, durch einen um einen Hof angelegten Raumkranz und axial angeordnete Außen- und Hoftüren gekennzeichneten Bautypus des Hochtempels.174
Im Zuge seiner detaillierten Analyse der archäologischen und philologischen Quellen kann Schmid über den Befund an den Zikkurrattreppen deutlich machen, dass die Anubelšunu-Tafel den jüngsten Zustand des Stufenturms, also die Zikkurrat mit dem Backsteinmantel, beschreibt. Er kann aufzeigen, dass das in der Tafel überlieferte Höhenmaß der untersten Terrasse auf den Gründungshorizont der Zikkurrat bezogen ist und die Höhe der Brüstung auf der Terrasse mit einschließt. D. h., Anubelšunu gibt einen Aufriss der Zikkurrat wieder, der auch das nicht sichtbare Fundament impliziert. Das Höhenmaß kann somit nicht von einem nachträglichen Aufmaß stammen, sondern muss ein Maß der Planung sein. Damit gelingt Schmid der äußerst bedeutsame Nachweis, dass die von Anubelšunu kopierte Tafel keine Baubeschreibung im eigentlichen Wortsinn, sondern die Beschreibung des Entwurfs für die spätbabylonische Zikkurrat Etemenanki gewesen ist.175
Die Vorlage der Beschreibung könnte eine einfache, mit Maßangaben versehene Zeichnung gewesen sein, wie sie für altorientalische Zikkurratbauten in Form von Grund- bzw. Aufrisszeichnungen durchaus belegt sind. Für die Treppen gab die Zeichnung vermutlich aber nur die generelle Form und nicht die Maße an, da deren genaue Bestimmung der Ausführungsplanung überlassen blieb. Dies erklärt, weshalb die Treppen in der Anubelšunu-Tafel keine Erwähnung finden.
Die Erkenntnis, dass die Anubelšunu-Tafel ein Planungsstadium der Zikkurrat wiedergibt, verleiht dem Text einen neuen Stellenwert. Seine Informationen können nun in Abhängigkeit vom Befund relativiert werden, während umgekehrt die Grabungsergebnisse jeweils vor dem Hintergrund der Umsetzung eines Bauplans in die Wirklichkeit zu bewerten sind.
Festzuhalten ist, dass der Bauplan von Etemenanki die Ausführung nur in ihren Grundzügen und nicht in der Art einer modernen Werkplanung determiniert hat. Entsprechendes dürfte dann sehr wahrscheinlich auch für die Bauplanung älterer Perioden gelten.176 Sofern es nicht doch noch ein uns unbekanntes Zwischenstadium eines Werkplans gegeben haben sollte, mussten dadurch abgesehen von der Berechnung und individuellen Gestaltung der Treppen wohl auch alle übrigen Details der Expertise der ausführenden Baumeister auf der Baustelle vorbehalten bleiben. Im konkreten Fall der beiden Zikkurrat-Seitentreppen etwa waren die Bauleute bei der Realisierung prinzipiell bloß an das Steigungsverhältnis für die Tritt- und Wangenstufen, an die Terrassenhöhen und an die Grundregel, Terrassenmantel, Treppen und Wangen im Mauerwerksverband auszuführen, gebunden.177
Schmid konnte die Anubelšunu-Tafel lediglich deshalb als Planbeschreibung des spätbabylonischen Stufenturms Etemenanki identifizieren und zugleich das hinter der Ausführung des Gebäudes stehende Dimensionierungsprinzip entschlüsseln, weil er den Baubefund des Grundrisses gezielt im Hinblick auf den Aufriss interpretierte.
Entscheidend war neben der Kenntnis der Maßeinheit und des Maßsystems die Feststellung der ungewöhnlichen Ausführungsgenauigkeit, mit der man das im Text erwähnte Grundrissquadrat der Zikkurrat von 180 Ellen Länge und Breite angelegt hatte. Aus diesem Ellenmaß und der Beobachtung, dass darauf 270 Ziegel entfielen, ließ sich das Richtmaß für Ziegel und Fuge nach folgender Rechnung ermitteln: 180 Ellen x 30 ubānu = 5400 ubānu. 5400 ubānu : 270 = 20 ubānu = 33,9 cm für Ziegel und Fuge. Bei Kantenlängen des Ziegels von 31,5 bis 32 cm blieben für die Fuge 2 bis 2,4 cm = 1
bis 1
ubānu und damit genügend Spielraum für Ausgleichsmaßnahmen.178
Auf analoge Weise ins babylonische Maßsystem umgerechnet, verrieten als nächstes die Gliederungsmaße der aus Vor- und Rücksprüngen bestehenden Mantelfassaden das zugrunde liegende Dimensionierungsprinzip und damit die Richtmaße.
Es folgte die Entdeckung, dass die Stufen der Treppenwangen in der Einheit ubānu, dem Dreißigstel der Elle, bemessen worden sind, Höhe und Breite im Verhältnis 8:11 gestanden und die Höhe jeweils 10 Ziegelschichten betragen hat. Hiermit war nicht nur das exakte Steigungsverhältnis der Zikkurrattreppen zu bestimmen, sondern auch das Verfahren zu rekonstruieren, nach dem die Treppen von den Baumeistern berechnet worden sind. Mittels dieser Erhebung konnten die Maßangaben auf der Anubelšunu-Tafel relativiert und die Tafel selbst als Planbeschreibung erkannt werden. Für Schmid eröffnete sich die Möglichkeit, die im Gegensatz zu den Seitentreppen unmittelbar auf die zweite Terrasse führende Mitteltreppe und das Hofniveau zu berechnen und nachzuweisen, dass sich der Terrassenkörper von Etemenanki im Laufe der Zeit um mehr als einen halben Meter abgesenkt hatte.179
Baumaßnahmen an Etemenanki sind urkundlich für die Zeit vor Sanherib sowie für die Könige Asarhaddon, Assurbanipal, Nabupolassar (626–605 v. Chr.) und Nebukadnezar II. (604–562 v. Chr.) bezeugt. Allerdings sind nirgends Stempelziegel in situ gefunden worden, so dass die Zeitstellung der freigelegten Zikkurratreste für die Ausgräber anfangs nicht ohne weiteres ersichtlich gewesen war.180
Schmids Untersuchungen hatten nun zweifelsfrei ergeben, dass die Anubelšunu-Tafel innerhalb der langen Baugeschichte des Tempelturms die Planbeschreibung für die spätbabylonische Zikkurrat des Nabupolassar gewesen sein muss, die nach dessen Tod von Nebukadnezar II. vollendet worden ist. Auf diese Weise erschloss die Tafel auch eine Reihe anderer Quellen, die als Bauurkunden der Könige vorliegen und die den geschichtlichen Hintergrund des Geschehens erhellen. Die Planung des Bauwerks sowie die Ausführung der Bauarbeiten konnte Schmid so in ihren einzelnen Schritten nachzeichnen. Seine Ergebnisse sollen aufgrund ihres für die altorientalische Monumentalarchitektur exemplarischen Charakters im Folgenden noch etwas ausführlicher wiedergegeben werden.
Der in der Anubelšunu-Tafel beschriebene Plan muss auf sehr genauen Informationen über die Situation vor Ort auf der Baustelle beruht haben. Das Marduk-Heiligtum von Babylon beherrschte damals mit etwa 70 m Seitenlänge und 50 m Höhe die ruinöse Zikkurrat Asarhaddons. Ihre Lehmziegelschale hatte sich vermutlich bereits von dem noch älteren, ebenfalls aus Lehmziegeln bestehenden Kernmassiv der Zikkurrat abgelöst. Das könnte zu der Entscheidung beigetragen haben, den Neubau Nabupolassars mit einem absolut standsicheren Backsteinmantel in Asphaltverguss auszustatten.181
Die Zikkurrat Asarhaddons mußte bei der Bauplanung berücksichtigt werden. Es bestand von daher zunächst die Notwendigkeit, die Ruine zu vermessen und den Baugrund zu untersuchen. Nur so konnten die Hauptdimensionen des Baukörpers und die Stärke des äußeren Backsteinmantels der spätbabylonischen Zikkurrat festgelegt werden.
Das Maß von 180 babylonischen Ellen zu 50,851 cm182, d. h. von 91,531 m, für Länge, Breite und Höhe des neuen Turms war aber nicht bloß das Resultat rein bautechnischer Überlegungen. Zweifellos hat man es theoretisch gewonnen. Nach Aussage der Texte geht es auf eine göttliche Eingebung Nabupolassars zurück, Schmid hingegen sieht in ihm nicht zuletzt den Reflex der Zahlenspiele planender Architekten. Der stehende Bau scheint bei der Maßfindung v. a. insofern eine Rolle gespielt zu haben, als das Maß 180 offenbar von Asarhaddon übernommen, zugleich aber aus der neubabylonisch-neuassyrischen Kleinelle von rund 40 cm183 in die größere Maßeinheit der Elle übertragen worden ist.
Bei dem Baukörper der spätbabylonischen Zikurrat, so wie er aus den Angaben der Anubelšunu-Tafel rekonstruiert werden kann, handelt es sich um ein differenziert abgestuftes Terrassenbauwerk mit einem zuoberst befindlichen Tempel. Als Grundmaß diente den Planern der nindan zu 12 Ellen. Da es nicht gelingt, dem Aufriss ein für uns nachvollziehbares Proportionssystem zu unterlegen, vermutet Schmid, dass die zentrale Entwurfsidee für Grund- und Aufriss darin bestanden hat, den Körper der alten Zikkurrat nicht nur einfach zu umhüllen, sondern eine Erinnerung an ihn zu wahren. Offenbar deshalb sei die neue Mitteltreppe bis in seine Höhe geplant und hier der breite, aus den Angaben der Anubelšunu-Tafel ersichtliche Umgang angesetzt worden, der die beiden gewaltigen unteren Terrassen von den oberen Terrassen trennte.
Entsprechend sei durch die Höhe der Ruine aus der Zeit Asarhaddons die Höhe der zwei Kolossalterrassen des spätbabylonischen Bauwerks, die nach der Anubelšunu-Tafel insgesamt 102 Ellen betrug, vorgegeben worden. Die Unterteilung des Maßes in 66 Ellen für die untere und 36 Ellen für die zweite Terrasse resultierte, so Schmid, aus der Abstimmung der Fundamenthöhe mit der Höhe der beiden Seitentreppen, die zusammen mit der Mitteltreppe den Aufgang auf die Zikkurrat ermöglichten. Die Seitentreppenhöhe war über die Lauflänge und diese wiederum über die Seitenlänge der Zikkurrat abzüglich der Breite der Mitteltreppe festgelegt. Auf die beiden unteren Terrassen folgten dann noch vier weitere, jeweils 12 Ellen hohe Stufen, auf deren oberster sich der Hochtempel befand (Abb. 3.24).
Bevor der Entwurf der Zikkurrat des Nabupolassar konkrete Gestalt annehmen konnte, musste die Höhe der neuassyrischen Zikkurratruine über dem zukünftigen Hofniveau bestimmt werden, um die Planung der Treppen vornehmen zu können. Die Treppen sollten auf Hofniveau angetreten und nur der Zikkurratmantel tiefer gegründet werden. Dies war nicht zuletzt bautechnisch ratsam, da vorhersehbar war, dass sich der schwere Backsteinmantel stark absenken würde. Es machte also Sinn, die unteren Ziegelschichten des Mantels ohne Treppen aufzumauern, so dass sich unter seinem Eigengewicht der Baugrund verdichten und nach und nach stabilisieren konnte. Zugleich lag es nahe, für die Treppen die Antrittshöhe so hoch wie möglich über die Mantelsohle, mithin auf das vorgesehene Hofniveau, zu legen. Da aber die Planhöhe der unteren Terrasse des Stufenturms auf die Mantelsohle zu beziehen war, galt es, deren Höhendifferenz gegenüber dem Hof zu ermitteln, was nur über Sondagen möglich war, die durch den angehäuften Schutt getrieben werden mussten.
Die Planarbeit beruhte also nicht nur auf einer detaillierten Kenntnis des Zustands der Vorgängerbauten sowie der Baugrundverhältnisse, sondern erforderte bereits erste Maßnahmen auf der Baustelle. Vermutlich sind sie schon vor Einsetzen der eigentlichen Planung, mit Sicherheit aber vor der Ausarbeitung des geltenden Entwurfs, durchgeführt worden. Um mit dem Neubau beginnen zu können, war es ja ohnehin unumgänglich, den Schutt und die nicht mehr standsicheren Partien der Vorgängerbauten zu entfernen. Hierbei scheint auch der Lehmziegelmantel der Zikkurrat des Asarhaddon abgetragen worden zu sein.
Schmid nimmt an, dass die Untersuchungen an der Ruine keine völlig exakten Werte für das Maß geliefert haben, um das der Zikkurratmantel gegen das Hofniveau abzuteufen war. Jedenfalls war es später nötig, die Seitentreppen umzuplanen und tiefer anzusetzen, um sich damit einen verbindlichen Bezugshorizont zu schaffen. Hieran lassen sich gewisse Probleme bei der Treppenplanung ablesen und vielleicht erklärt sich hieraus auch, weshalb in der Planbeschreibung der Anubelšunu-Tafel keine Angaben zu den Treppen zu finden sind. Konzipiert waren sie sicher, denn sie waren wesentliche Elemente des Entwurfs. Zudem standen zumindest die Seitentreppen in einer festen Korrelation zur Seitenlänge des Turms. Wenn die Konzeption aber bloß auf ungefähren Angaben zu den Höhenlagen der relevanten Bauhorizonte basierte, war der Entwerfer gut beraten, sie nicht mit Maßen zu fixieren. Ohne Maßangaben jedoch konnte der Schreiber den Treppenplan nicht in Worte fassen, selbst wenn er in seiner Vorlage eingezeichnet war.
Die Analysen verdeutlichen, dass die Beschreibung der Anubelšunu-Tafel ein Frühstadium der Zikkurratplanung wiedergibt, in dem nur die Hauptdimensionen des Bauwerks enthalten sind. Gleichwohl war damit nicht nur die Entwurfsidee, sondern auch das Bauvorhaben selbst konkret festgelegt, wie die von den Ausgräbern beobachteten Übereinstimmungen mit der Bauausführung belegen. Die Details der Realisierung waren allerdings in dem Entwurf noch nicht enthalten. Vielmehr blieben sie dem Sachverstand der einzelnen Baumeister überlassen.184
Weitere eingehende Studien zum Planungsprozess altorientalischer Bauten sind zuletzt von R. Eichman und M. van Ess vorgelegt worden. Sie können hier nur kurz angesprochen werden. Eichmann befasst sich mit der Architektur aus den Archaischen Schichten von Uruk und in dem Zusammenhang auch mit der urukzeitlichen Bauplanung. Nach den Ergebnissen seiner Untersuchungen bspw. zum Steinstifttempel, zur Pfeilerhalle (Abb. 3.13, 3.50), zum Gebäude E (Abb. 3.14), zum „Großen Hof“ (Abb. 3.19) und zum sog. „Tempel C“ scheinen modulare Konzeptionen, von denen in der baupraktischen Ausführung partielle Abweichungen erfolgen konnten, eine zentrale Rolle im Entwurfsprozess gespielt zu haben.185
Van Ess behandelt in ihrer Arbeit die Architektur des Eanna-Heiligtums von Uruk aus der Ur III- und altbabylonischen Zeit unter besonderer Berücksichtigung der Planungsvorgänge. U. a. widmet sie sich der Rekonstruktion des Ur III-zeitlichen Ellenmaßes von Uruk auf der Basis der Ziegelgrößen sowie der Mauer-, Raum-, Trakt- und Abstandsmaße. Eindeutige Rückschlüsse auf die verwendete Ellengröße (Normalelle oder Kleinelle) und auf das genaue metrische Äquivalent (Fingergröße 1,60 oder 1,66 cm) ergeben sich jedoch nicht. Fernerhin legt van Ess dar, dass unter Urnammu von Ur in verschiedenen Kultzentren Babyloniens ein Neuanfang in der Entwurfsgestaltung der Heiligtümer erkennbar wird. Damals wurde die Idee eines mehrstufigen Zikkurratkörpers mit vorgelegter T-förmiger Treppenanlage einem fixen Schema unterworfen (Abb. 3.23). Dies erlaubte Urnammu, schnell und an mehreren Orten gleichzeitig bzw. in kurzer Abfolge mit dem Zikkurratbau zu beginnen und auf solche Weise eine Vereinheitlichung der Bauidee der Zikkurrat zu bewirken.186
Vielfältige Hinweise auf ein hohes Maß an Vorausplanung finden sich ebenfalls im Bereich des altorientalischen Städtebaus.187 Hier liegt mit der späturukzeitlichen Niederlassung Habuba Kabira-Süd ein sehr früher archäologischer Beleg vor (Abb. 3.25). Mit den Befestigungen, den öffentlichen Gebäuden auf dem Tell Qannas, dem Straßensystem, der Kanalisation und der Parzelleneinteilung für den Wohnhausbau sind weite Teile der Stadtanlage detailliert vorausgeplant worden, wenn auch nicht durchweg bereits zum Zeitpunkt der Siedlungsgründung.188
Abb. 3.26: Rekonstruktion der über ausgedehnten extramuralen Gärten angelegten Zitadelle von Dur-Šarrukin mit Königspalast Sargons II., Tempelbezirk und Residenzen der Großen des Reiches/Neuassyrische Zeit. Mit freundlicher Genehmigung des Oriental Institute of the University of Chicago.
Abb. 3.26: Rekonstruktion der über ausgedehnten extramuralen Gärten angelegten Zitadelle von Dur-Šarrukin mit Königspalast Sargons II., Tempelbezirk und Residenzen der Großen des Reiches/Neuassyrische Zeit. Mit freundlicher Genehmigung des Oriental Institute of the University of Chicago.
Für den späteren Städtebau ab der Akkadzeit (24.–22. Jh. v. Chr.) zeigt M. Novák am Beispiel der Residenzstädte auf, dass die Akzentuierung bestimmter Bauten und intraurbaner Achsen einen Reflex der kosmologischen Ordnung darstellen konnte. Sehr deutlich wird das etwa in Dur-Šarrukin (Abb. 3.26) und Babylon. Dort kam städtebaulichen Elementen – darunter Tempel, Paläste und extramurale „Universalgärten“, wie sie die assyrischen Herrscher zum Zeichen ihres Weltherrschaftsanspruchs angelegt haben (Abb. 3.30), aber auch Stadtmauern, Stadttore und Straßen – über ihre primären architektonischen Funktionen hinaus nicht selten ein spezifischer Symbolcharakter zu.189
3.5 Logistik
3.5.1 Ressourcen, Verkehrswege und Transport
In der Geschichte Mesopotamiens geht die im 4. Jahrtausend v. Chr. während der Urukzeit einsetzende Urbanisierung mit einem merklichen Anstieg des Bedarfs an im südlichen Schwemmland nicht oder nur eingeschränkt verfügbaren Rohstoffen, insbesondere Metallen, Steinen und Hölzern, einher. Dieser Trend setzt sich während des 3. Jahrtausends v. Chr. fort. Eine privilegierte soziale Schicht, die die städtischen Eliten stellte und die an der Spitze der Tempel- und Palasthaushalte stand, entwickelte eine verstärkte Nachfrage nach exotischen Materialien und Gütern, die ihnen als Statussymbole dienten. Dies hatte Auswirkungen auf unterschiedliche Handwerke, darunter auch das Bauhandwerk.
Ungeachtet der Erwähnung importierter Baumaterialien in Herrscherinschriften seit der jüngerfrühdynastischen Zeit dürfte im 3. Jahrtausend und vielfach auch noch im 2. Jahrtausend v. Chr. die tatsächliche Menge der in Verbindung mit öffentlichen Bauprojekten nach Mesopotamien importierten Rohstoffe in Relation zu den lokal bereit gestellten Baumaterialien allerdings sehr begrenzt gewesen sein. Im Austausch für die eingeführten Güter standen, sofern es sich nicht um Beute, Tribute oder Geschenke handelte, zumeist Fertigprodukte, namentlich Textilien.
Hierbei ist zu betonen, dass neben dem in den Textquellen deutlich überwiegenden staatlichen Wirtschaftssektor in Mesopotamien stets auch ein privater Wirtschaftssektor existiert hat, der ebenfalls in die Rohstoffbeschaffung und das Transportwesen involviert war. Zwar ist seine Größe und Bedeutung in den verschiedenen Epochen der altorientalischen Geschichte bislang noch schwer einzuschätzen. Wir wissen aber, dass der staatliche und der private Wirtschaftssektor bei öffentlichen Bauvorhaben bisweilen kooperierten, so wie dies bspw. in neuassyrischer Zeit für die Baufinanzierung der Residenzstadt Sargons II. (722–705 v. Chr.) Dur-Šarrukin bezeugt ist.190
Bei den außerhalb des Zweistromlandes gelegenen Regionen, aus denen man Baumaterialien bezog, handelt es sich primär um die benachbarten Bergländer, die sich vom Taurus- respektive Amanusgebirge in Syro-Anatolien über das Zagrosgebirge bis nach Südiran erstrecken. Zuweilen wurden daneben auch Rohstoffe aus noch weiter entfernten Gebieten herbeigeschafft, die man auf dem Landweg über Iran oder dem Seeweg über den Golf erreichte. Falls bestimmte Rohstoffquellen zeitweise nicht zugänglich waren, konnte man so in der Regel auf andere ausweichen.191
Die wichtigste Verbindung zu den Rohstoffquellen in Syrien und Anatolien stellte der Euphrat dar. Der Fluss und seine Ufer erlaubten grundsätzlich sowohl einen Wasser- als auch einen Landtransport. Die Lage von Siedlungen des späten 4. Jahrtausends v. Chr. wie Habuba Kabira (Abb. 3.25) und Ğebel Aruda an einer Stelle, an der der Euphrat dem Mittelmeer am nächsten kommt, hat man häufig auf dem Hintergrund eines ausgedehnten, bis nach Ägypten reichenden Netzes urukzeitlicher Transportwege zur Versorgung südlicher Zentren mit Ressourcen aus dem Norden und Westen gesehen.192
Anhaltspunkte für den Lastentransport des frühen 2. Jahrtausends v. Chr. auf dem Euphrat, dem Habur sowie einem angeschlossenen Kanalnetz liefern die Palastarchive von Mari. Itinerare aus jener Zeit deuten darauf hin, dass in Zeiten großer Hitze die Flusspassage zwischen den Einmündungen des Habur und des Balih Schwierigkeiten bereiten konnte.
Außer zum Seehandel im Ostmittelmeerraum, der allerdings erst im 2. Jahrtausend v. Chr. stärker in das Blickfeld Mesopotamiens rückte, stellte der Euphrat gleichfalls eine Verbindung zu den Rohstoffquellen dar, die durch die Schiffahrt im Golfgebiet und im Arabischen Meer erschlossen wurden. Eine Bedeutungszunahme der Fernhandelsroute zwischen den beiden Meeren reflektieren textliche und archäologische Zeugnisse etwa ab der Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. und speziell die Inschriften der Akkadzeit (24.–22. Jh. v. Chr.). Wichtige Rohstofflieferanten am südöstlichen Ende der Route, nicht zuletzt für das Bauwesen, bildeten Dilmun, Magan und Meluhha, die von der Forschung meist im Bereich von Bahrain, an der Küste Omans und im Indusgebiet lokalisiert werden.193
Zahlreiche weitere Verkehrsrouten, bei denen Streckenabschnitte zu Land und zu Wasser einander abwechselten, verbanden Euphrat und Tigris in Süd- und Zentralmesopotamien. In Nordmesopotamien führten vielgenutzte Landwege, über die die Kaufmannsarchive der altassyrischen Handelskolonien in Kappadokien Auskunft geben, von Assyrien durch die Steppenlandschaft der Ğazira bis zum Euphratbogen und von dort weiter nach Westsyrien und Anatolien. Die durchschnittliche Strecke, die von den Karawanen oder auch bei Schiffspassagen stromaufwärts an einem Tag zurückgelegt werden konnte, lag zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. bei etwa 25–30 km.
Der Tigris und seine Zuflüsse stellten weniger geeignete Wasserwege für den Gütertransport dar. Flöße, die den Tigris hinabtrieben, konnten leicht an vorspringenden Felsen Schaden nehmen. V. a. oberhalb von Mossul war das Flößen sehr schwierig und gefährlich. Ninive entwickelte sich hierdurch zu einer wichtigen Verladestation für alle Arten von Gütern, die aus dem Westen kamen und weiter nach Süden befördert werden sollten.
Die Passage durch das Zagrosgebirge auf das iranische Plateau erfolgte auf dem Landweg. Eine wichtige Route bildete hier seit alters die Wegstrecke, die heute durch die Städte Bagdad, Kermanshah, Hamadan, Teheran und Meschhed gekennzeichnet ist.
Schon sehr früh entwickelte sich zudem weiter südlich das elamische Susa, in Khuzistan an der äußersten Peripherie der mesopotamischen Tiefebene gelegen, zu einem Knotenpunkt mehrerer großer Überlandrouten, die hier, aus dem iranischen Hochland, insbesondere Fars, dem östlichen Golfgebiet, Südmesopotamien und der Fußzone des Zagros kommend, zusammentrafen. Sehr wichtige Verkehrswege verbanden Susa überdies mit Zentral- und Nordmesopotamien. Susas Funktion als Scharnier zwischen einer weit ausgedehnten Zone rohstoffreicher Gebiete und dem vergleichsweise rohstoffarmen Alluvium sicherte der Stadt eine verkehrsgeographische Schlüsselstellung, die das Verhältnis der Herrscher Südmesopotamiens zu Elam über Jahrtausende hinweg geprägt hat.194
Sehr schwere Lasten, zu denen auch Baumaterialien zählen, ließen sich in Mesopotamien über größere Entfernungen nur auf dem Wasserweg befördern. Der Reichtum des Landes an Wasserstraßen in Gestalt von Flüssen und seit dem 4./3. Jahrtausend v. Chr. ebenfalls Kanälen sowie die Verbindung zum Golf bildeten in diesem Zusammenhang grundsätzlich sehr gute Voraussetzungen. So war der Transport zu Wasser im allgemeinen schnell und kostengünstig.
Kennzeichnend für die mesopotamische Flussschiffahrt waren vornehmlich kleinere Wasserfahrzeuge aus lokal verfügbaren Materialien, die sich im Laufe der Jahrtausende kaum gewandelt haben. Modelle von Booten liegen bereits aus der Ubaidzeit vor und spätestens ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. sind die Kenntnis des Segels und eine frühe Seeschiffahrt im Golf bezeugt.
Bildliche Darstellungen auf urukzeitlichen Siegeln zeigen, dass im Süden Flöße und Boote aus Schilf, die gestakt und gepaddelt wurden, in Gebrauch waren. Weiter stromaufwärts hat man Flöße und runde Boote aus Häuten und Korbgeflecht benutzt.
Auf den besser schiffbaren Abschnitten der Wasserwege verkehrten daneben auch größere Boote. Wir wissen nicht viel über ihre Bauart, doch noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts n. Chr. erfolgte der Lastentransport auf dem mittleren Euphrat hauptsächlich auf Flößen aus Holz und Reisig, die mit Tamarisken- oder Weidenrinden festgezurrt waren und denen aufgepumpte Ziegenhäute zusätzlichen Auftrieb gaben. Die Flöße konnten je nach Größe Lasten von ca. 5 bis 36 Tonnen tragen und man darf annehmen, dass auf ähnliche Weise konstruierte Flöße in Mesopotamien auch in altorientalischer Zeit in Gebrauch waren.
Abb. 3.27: Orthostatenreliefs mit Darstellungen von Steinbrucharbeiten und des Transports einer Torhüterfigur, aus dem Südwestpalast Sanheribs in Ninive/Neuassyrische Zeit (Orthmann 1975, Abb. 234).
Abb. 3.27: Orthostatenreliefs mit Darstellungen von Steinbrucharbeiten und des Transports einer Torhüterfigur, aus dem Südwestpalast Sanheribs in Ninive/Neuassyrische Zeit (Orthmann 1975, Abb. 234).
Im Bereich des Landtransports spielten angesichts des oft unwegsamen Geländes, das den Einsatz von Wagen erschwerte, Lasttiere die wichtigste Rolle. Dass allerdings auch die menschliche Muskelkraft bei der Beförderung schwerer Lasten ein zentraler Faktor war, dokumentieren anschaulich die Orthostatenreliefs Sanheribs (704–681 v. Chr.), auf denen Zwangsarbeiter beim Abtransport gewaltiger Torhüterfiguren für den Palast in Ninive dargestellt sind (Abb. 3.27). Weiterhin wurden Boote bei Fahrten stromaufwärts von Treidlern gezogen.
Unter den Lasttieren ist in Mesopotamien zunächst ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. der Esel belegt. Später kam noch der Maulesel bzw. das Maultier hinzu. Die wichtigste altorientalische Quelle für den Packesel bilden die altassyrischen Kaufmannsarchive aus Karum Kaneš in Kappadokien. Hiernach konnten die Esel eine Last von bis zu 90 Kilogramm tragen. Das Kamel erlangte als Lasttier im mesopotamischen Raum erst ab dem 1. Jahrtausend v. Chr. Bedeutung.
Ab dem späten 4. Jahrtausend v. Chr. treten im Zweistromland gleichfalls die ersten Landfahrzeuge auf. Sie dienten sehr unterschiedlichen Zwecken, darunter auch dem Lastentransport. Bezeugt sind diverse Typen von Wagen, Karren und Schlitten, die von Boviden und Equiden gezogen wurden. Von Menschen gezogene Karren mit Arbeitsmaterialien (Abb. 3.28) sowie Schlitten mit schweren steinernen Bauteilen (Abb. 3.27) begegnen auf Orthostatenreliefs aus der Zeit Sanheribs.195
Einen näheren Einblick in den Bereich der Materialbeschaffung und des Transports bei einem großen Bauprojekt der neuassyrischen Zeit gewähren Briefe aus der Zeit Sargons II. Sie stammen aus den königlichen Staatsarchiven Assyriens und haben die Bauarbeiten in Dur-Šarrukin, der neuen Residenzstadt des Königs, zum Gegenstand. Die größte Zahl der Briefe bezieht sich auf die Bereitstellung von Ressourcen. Hierzu rechnen v. a. Stroh und Schilf für die Ziegelherstellung und die Mauerverbände, Kalkstein für die Fußböden, Schwellen und Türhüterfiguren, Holz für die Dachbalken und Türen sowie Setzlinge von Obstbäumen für die Gärten.
Stroh in Gestalt von Häcksel wurde u. a. bei der Ziegelproduktion benötigt, die vor Ort von der lokalen Bevölkerung durchgeführt wurde, während Schilflagen beim Aufmauerungsprozeß in regelmäßigen Abständen in das Ziegelwerk integriert wurden, um Setzungsproblemen vorzubeugen. Die Materialien wurden aus den nahe gelegenen Provinzen herbeigeschafft, und der Bedarf war so groß, dass ein hoher assyrischer Würdenträger sich in einem Brief beklagte, dass alles Stroh in seinem Land für Dur-Šarrukin reserviert sei und es kein Stroh mehr für die Lasttiere gebe.196
Baugestein unterschiedlicher Art gab es in Nordmesopotamien in genügender Anzahl. Steinbrüche lagen in Adia und Tastiate auf dem rechten Tigrisufer und in Habruri jenseits des oberen Zab. Als Transportmittel für die Blöcke dienten den Assyrern, wie Reliefdarstellungen Sanheribs dokumentieren, Karren, Schlitten, Boote und Flöße.
Prinzipiell bereiteten der Abbau des Materials und die Beförderung zu den Baustellen in Dur-Šarrukin keine Schwierigkeiten. Die einzigen in der Korrespondenz Sargons II. angesprochenen Transportprobleme bei steinernen Bauelementen resultierten aus den gewaltigen Dimensionen der Türhüterfiguren, die für die Stadt- und Königspalasttore der neuen Residenz bestimmt waren (Abb. 3.26).
Die Kolosse konnten eine Höhe von nahezu 6 m und ein Gewicht von 50 Tonnen erreichen und ihre Bereitstellung oblag den Großen des Königs. Beim Transport bestand die schwierigste Aufgabe darin, dass die rohbehauenen Figuren aus Steinbrüchen auf dem Dur-Šarrukin gegenüber liegenden Flussufer herbeigeschafft werden mussten, was nur unter großen Mühen und Gefahren möglich war. Die erforderliche Flussüberquerung auf Booten aus mächtigen Holzstämmen konnte aufgrund des enormen Gewichts der Türhüter immer nur im Monat Iyyar zu Zeiten des Frühjahrshochwassers erfolgen. Sie setzte von daher eine exakte Zeitplanung voraus, von der die Briefe der Staatsarchive beredtes Zeugnis ablegen.197
Sehr detaillierte bildliche Darstellungen der Vorfertigung und des Transports steinerner Bauteile, die nur wenig jünger als die Korrespondenz Sargons datieren, finden sich, wie bereits kurz vermerkt, auf Reliefs aus dem Südwestpalast Sanheribs in Ninive. Sie gehören zu einer Szenenfolge, die die Errichtung des Palasts illustriert. Wiedergegeben sind der Transport einer monumentalen stiergestaltigen Türhüterfigur und Arbeiten im Steinbruch (Abb. 3.27).
Zum Transport, der in der Nähe des Flussufers und unter den Augen des Königs stattfindet, hat man die gewaltige Türhüterfigur auf eine Art Schlitten gelegt, der von vier Kolonnen aus Zwangsarbeitern mit langen Seilen fortbewegt wird. Die Männer werden von Vorarbeitern eingewiesen und von in Reihen aufgestellten Soldaten beaufsichtigt. Unter dem Schlitten befinden sich Rundhölzer. Ein langer Baumstamm, der von Männern mit Hilfe von Schlingen betätigt wird, kommt als Hebel zum Einsatz. Eine weitere Gruppe von Arbeitern trägt währenddessen Steine ab, offenbar um die Bahn zu ebnen.
In einer angrenzenden Szene wird gezeigt, wie Steinbrucharbeiter eine abgewinkelte Rinne in den Felsen schlagen. Aus der Beischrift geht hervor, dass es auch hier um die An- bzw. Vorfertigung von Türhüterfiguren für die Leibungen der großen Palasttore in Ninive geht und dass die Arbeiten im Steinbruch von Balatai stattfinden. Es handelt sich mithin um eine dem Transport vorangehende Arbeitsphase, wobei die längliche Form des stehengebliebenen Kalksteinblocks schon der Kontur der späteren Türhüterfigur entspricht. Die losgeschlagenen Steine werden von Männern in Körben abtransportiert.198
Holz für die neue Residenzstadt Sargons II. wurde bevorzugt in Grenzregionen, Vasallenstaaten oder auch feindlichen Gebieten wie bspw. Urartu gefällt. Die mit der Holzbeschaffung beauftragten Beamten hatten offenbar genau festgelegte Quoten zu erfüllen. Das geschah entweder mit formeller Einwilligung der lokalen Potentaten oder, um einiges risikoreicher, in Gestalt von Raubzügen und mit Unterstützung durch assyrisches Militär.
Hauptsächlich kam das Bauholz aus den waldreichen Bergregionen am Oberlauf des Tigris. Man ließ es den Fluß bis zu einem Sammelpunkt bei Ninive hinabtreiben und schaffte es von dort in Karren nach Dur-Šarrukin. Aber auch aus entfernteren und schwieriger zugänglichen Regionen wie dem Amanusgebirge wurde Holz importiert. Die dort geschlagenen Stämme ließ man zunächst den Euphrat hinabtreiben, bis zu der Stelle, an der er dem Tigris am nächsten kommt. Hier wurden die Hölzer umgeladen und anschließend mit Booten tigrisaufwärts bis nach Ninive geschleppt.
In Assur befand sich ein Zwischenlager, da der nördlich gelegene Flußabschnitt bis Ninive größere Transportprobleme bereitete. Ein Brief des Gouverneurs von Assur vermittelt einen ungefähren Eindruck von den Ausmaßen der Holzeinfuhr. Man erfährt, dass in dem Depot in Assur zu jenem Zeitpunkt 372 schwere Balken, 808 Balken zweiter Größe, 2.313 Balken dritter Größe und 11.807 Balken vierter Größe, alles in allem also 15.290 intakte Balken gelagert waren, zu denen noch 13.157 beschädigte Balken hinzu kamen.
Einiges Holz wurde ebenfalls noch aus heimischen Wäldern geholt, doch geschah dies nur in sehr begrenztem Umfang und auf ausdrückliche Anordnung des Königs, da die Ressourcen gering waren.199
Außer den Briefen aus der Zeit Sargons II. reflektiert auch eine größere Zahl von Darstellungen in der assyrischen Bildkunst das Fällen und den Transport von Bauholz. So geben ein Relief und dekorierte Elfenbeine aus der Zeit Assurnasirpals II. (883–859 v. Chr.) assyrische Soldaten wieder, die mit Äxten in einer dicht bewaldeten Gegend Holz schlagen. Eine Szene auf dem sog. Rassam-Obelisk Assurnasirpals II. zeigt Ochsen, die einen Wagen mit Scheibenrädern ziehen, auf dem ein Baumstamm liegt. Die Darstellung veranschaulicht, wie in jener Zeit kleinere Holzstämme über Land transportiert wurden.
Auf einem Fragment des Bronzetors von Balawat aus der Zeit Salmanassars III. (858–824 v. Chr.) sind assyrische Fußsoldaten zu sehen, die Baumstämme durch eine bewaldete Berglandschaft tragen.200 Die Thronbasis Salmanassars III. aus Kalhu zeigt ihrerseits die Darbringung von Holzstämmen, offenbar Zedern, als Tribut des Qalparunda von Unqi. Die Träger verwenden Seile, die sie über ihre Schultern gelegt haben.201
Besonders aussagekräftige Darstellungen liegen aus dem Palast Sargons II. in Dur-Šarrukin vor. Sie geben den Transport von Hölzern zu Wasser in mehreren aufeinanderfolgenden Stadien wieder: Zunächst werden die Stämme mit menschlicher Muskelkraft einen Berghang hinuntergezogen. Am Ufer werden sie für den Abtransport aufgehäuft. Danach werden die Hölzer in Boote verladen bzw. von Booten ins Schlepptau genommen (Abb. 3.29). Schließlich werden die Stämme an Land gebrac