V Vergessen

Dirk Rupnow

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DOI

10.34663/9783945561126-23

Citation

Rupnow, Dirk (2016). V Vergessen. In: Wissen Macht Geschlecht: Ein ABC der transnationalen Zeitgeschichte. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Im Mittelpunkt vieler zeitgeschichtlicher Forschungsarbeiten, theoretischer Debatten, aber auch öffentlicher Diskussionen standen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Gedächtnis und Erinnerung: mit der Erforschung kollektiver Erinnerungskulturen und Geschichtspolitiken unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure wie auch der massenhaften Aufzeichnung und Bewahrung individueller Erinnerungen in Oral History-Projekten. Eine Vielzahl von Begriffen und Konzepten ist eingeführt worden, um das Feld zu strukturieren: kommunikatives Gedächtnis, kulturelles Gedächtnis, kollektives Gedächtnis usw. Zu Recht ist von einem „Erinnerungsboom“ gesprochen worden, dessen Ende immer noch nicht abzusehen ist.

Eng gekoppelt ist diese Konjunktur an die Beschäftigung mit den nazistischen Massenverbrechen, ihren Folgen und ihrer Aufarbeitung. Erinnerung erscheint in diesem Zusammenhang stets als positiv konnotiert, als eine moralische Forderung an Individuen wie an Kollektive und Staaten, die antike Hochschätzung der Gedächtniskunst (ars memoriae) fortschreibend. Im deutschen Sprachraum hat sie ihre knappste und prägnanteste Formulierung signifikanterweise in der Phrase „Niemals Vergessen!“ gefunden. Wie kommt aber das Vergessen ins Spiel, das in der Debatte wesentlich weniger präsent ist, meistens nur implizit, über Umwege oder im Hintergrund beziehungsweise in seiner Abwehr und Negation? Ist Vergessen einfach das Gegenteil von Erinnerung, das Unvermögen zur Erinnerung, die Löschung des Gedächtnisses, wie es häufig erscheint („Niemals Vergessen!“ = „Erinnere Dich!“)?

Tatsächlich sind Erinnern und Vergessen viel komplexer miteinander verstrickt und ineinander verwoben: Das Vergessen erscheint geradezu als notwendige Voraussetzung für das Erinnern. Ohne Vergessen wäre kein Erinnern möglich, denn es kann nicht schlechterdings alles erinnert werden. Erinnerung kann nur selektiv vorgehen und selektieren bedeutet in diesem Fall: vergessen. In seiner Erzählung „Das unerbittliche Gedächtnis“ hat Jorge Luis Borges den Fall eines unfehlbaren Gedächtnisses geschildert, das alles wie in einer Abfalltonne aufsammelt. Der Protagonist, bereits gelähmt, stirbt an einer Lungenblutung, erstickt an der vollständigen Erinnerung: „Denken heißt vergessen, heißt verallgemeinern, abstrahieren.“

Friedrich Nietzsche hatte bereits im geschichtsbesessenen späten 19. Jahrhundert in seiner zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ darauf hingewiesen, dass Leben und Handeln ohne Vergessen überhaupt nicht möglich wären – und provokant das Vergessen dem Erinnern zumindest gleichgestellt: „es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch, ein Volk oder eine Kultur. […] das Unhistorische und das Historische ist gleichermaßen für die Gesundheit eines einzelnen, eines Volkes und einer Kultur nötig.“

Während Erinnerung aktiv und intentional wie auch passiv und spontan sein kann, erscheint ein willentliches Vergessen praktisch unmöglich. Deutlich wird dies beispielsweise in der jüdischen Tradition, im Umgang mit der Erinnerung an die Feinde des Volkes Israel: „Danach sagte Jahwe zu Mose: ‚Schreib es in ein Buch, damit es nicht in Vergessenheit gerät, und präge es Josua ein: Ich werde das Andenken an Amalek in der ganzen Welt vollständig auslöschen.‘“ (2. Mose 17.14) Diese Verknüpfung von Vergessen und Erinnern wird später noch einmal bestätigt, in Erinnerung gerufen: „Denk daran, was Amalek dir angetan hat, als ihr aus Ägypten zogt, wie er dich überfiel und hinter dir her ohne Gottesfurcht alle Schwachen erschlug, als du erschöpft und müde warst. Wenn Jahwe, dein Gott, dir in dem Land, das er dir geben will, Ruhe verschafft hat vor all deinen Feinden ringsum, dann sollst du jede Spur von Amalek auslöschen. Vergiss es nicht!“ (5. Mose 25.17–19)

Das Projekt der Gedächtnislöschung, die als Strafe gilt, muss immer wieder erinnert werden. Würde es vergessen, bestünde die Gefahr, dass die Erinnerung an die Feinde nicht mehr kontrollierbar ist. In diesem Fall ist also auch das (absichtsvolle) Vergessen an das Erinnern gebunden, das Erinnern eine notwendige Voraussetzung für das Vergessen, das so freilich nie vollständig erreicht werden kann. Denn mit der Erinnerung an das Gebot der Löschung jeder Spur, wird natürlich immer wieder eine neue Fährte gelegt, immer wieder von neuem in Erinnerung gerufen, was eigentlich vergessen werden soll. Gerade um es vergessen zu machen. Umberto Eco hat diese Tatsache einfach, elegant und ironisch formuliert: „An Ars Oblivionalis? – Forget it!“

Ähnlich funktionierte die bekannte kaiserzeitliche römische Praxis der damnatio memoriae (ursprünglich: abolitio nominis). Die Politik des Vergessens – oder besser: Vergessenmachens – wird hier als Verdammung des Andenkens, Fluch auf das Gedächtnis umschrieben. Als Majestätsverbrecher oder Staatsfeind verurteilte Personen wurden mit einem Grab- und Trauerverbot belegt, ihre Bilder und Namen getilgt, im Falle des Kaisers auch dessen Rechtshandlungen kassiert (rescissio actorum principis). Die öffentliche Nennung des Namens wurde zwar vermieden, stand aber gleichzeitig nie unter Strafe. Auch hier konnte ein komplettes, gewissermaßen spurloses Vergessen nicht das Ziel sein, weil es nicht zu kontrollieren gewesen wäre. Die Tilgung von Namen und Bildern der Betroffenen blieb absichtlich unvollkommen, musste unvollkommen bleiben: Es musste erkennbar sein, dass etwas absichtsvoll entfernt wurde, um es dem Vergessen zu überantworten. Dies war aber wiederum nur möglich um den Preis einer ständigen Spur und Erinnerung: an die Person, die vergessen werden sollte, und an das gegen sie gerichtete Gebot des Vergessens.

Es kann daher kaum verwundern, dass auch die Nazis keinesfalls eine einfache Vergessenspolitik parallel zum Genozid ins Werk zu setzen versuchten. Mit Begriffen wie „Gedächtnismord“ und „Mnemozid“ war das in den kulturwissenschaftlichen Debatten der letzten Jahrzehnte insinuiert worden – wohl auch, weil der Opferstatus den neuen Leitbegriff noch einmal gestärkt hätte. Tatsächlich bewahrten die NS-Täter das Gedächtnis an ihre Opfer, um es langfristig für ihre Zwecke nutzen zu können. Wäre diese manipulierte Erinnerung an die Opfer und auch ihr offensichtlich erklärungsbedürftiges Verschwinden aber auf Dauer kontrollierbar gewesen? Bestehende Narrative, selbst wenn sie machtvoll abgesichert sind, können natürlich immer durchleuchtet, hinterfragt und schließlich auch umgeschrieben werden – auch wenn Institutionen dies zu verhindern versuchen und Gesetze unter Strafe stellen.

Erinnerung ist höchst manipulierbar, aber ein Vergessen kann nicht erzwungen werden. Am Ende bleiben aber beide in ihrer gegenseitigen Verstricktheit immer ein Stück weit unbeherrschbar. Übersehen werden sollte jedoch nicht, dass auch Erinnerung das Vergessen befördern kann. Nicht zufällig ist wohl das Diktum des jüdischen Gelehrten Baal Shem Tov – „Vergessen verlängert das Exil, in der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung.“ – zentral in der deutschsprachigen Erinnerungskultur an die NS-Verbrechen und ihre Opfer geworden. Erinnerung verspricht hier Erlösung. Und das bedeutet am Ende wohl Vergessen.